Tübingen - Der 18-jährige Andreas tut sich mit seinem Schulfreund Frederic zusammen. Sie erschießen die beiden Schwestern von Andreas, die arglos vor dem Fernseher sitzen, mit 19 Kugeln. Dann gehen sie in eine Musikkneipe, wo Andreas’ Eltern den Abend verbringen, unterhalten sich zwanglos mit ihnen, scherzen. Gehen nach Hause, warten, massakrieren schließlich auch den Vater und die Mutter. Alarmieren am nächsten Morgen die Polizei. Das Krisenteam betreut Andreas als Opfer. Bis klar wird: Er ist Täter.
Der Eislinger Vierfachmord war so ein Fall, der „Nachhalleffekte“ in ihm auslöste, wie Peter Winckler sagt. Der ihn beim Aufwachen, beim Autofahren, beim Einschlafen beschäftigte. Der ihm heute noch nachgeht.
Ein blinder Fleck bleibt zuweilen
Winckler hat die beiden Mörder begutachtet: voll schuldfähig. „Aber ich bin überzeugt, die Motive sind noch nicht restlos durchleuchtet.“ Zwei junge Männer mit Zukunft, klug, aus der bürgerlichen Mitte, gesellschaftlich integriert – „und die begehen etwas so Unbegreifliches“. Auch für einen der renommiertesten forensischen Psychiater bleibt zuweilen ein blinder Fleck.
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Einmal saß er einem Mann gegenüber, der hatte zehn Frauen vergewaltigt, im gleichen Zeitraum einige Supermärkte überfallen. Eine seltsame Konstellation. Beim Gespräch trug er ein Shirt mit der Aufschrift „Bad or mad“. Winckler dachte: „Will der mich auf den Arm nehmen?“ Wollte er nicht, es war nur ein Mode-Label. Doch die drei Wörter haben sich ihm eingeprägt. „Bad or mad – eigentlich geht es bei meiner Arbeit genau darum.“
Die letzte Verantwortung liegt beim Gericht
Schuldig oder krank? Winckler kraxelt täglich im Grand Canyon der menschlichen Seele. Balanciert auf dem Grat zwischen innen und außen. Seine Gutachten entscheiden darüber, ob ein Täter im Gefängnis oder in der Klinik landet. „Eigentlich bewege ich mich außerhalb des hippokratischen Eids. Denn ich kann einem Menschen auch schaden, wenn ich zum Beispiel eine Sicherungsverwahrung bejahe.“ Die letzte Verantwortung liegt beim Gericht. Aber die Praxis zeigt: Ganz selten weicht ein Urteil von dem Gutachten ab.
Winckler kommt 1960 in Bozen zur Welt. Die Eltern machen vor der Niederkunft noch Urlaub, in der 36. Schwangerschaftswoche löst sich die Plazenta. Als daheim die Kunde von der Notgeburt die Runde macht, wollen die Leute dem Opa gratulieren. Dem kommen Tränen: „Besucht mich in vier Wochen, wenn wir wissen, dass es der Bub geschafft hat.“
„Wenn ich eins nicht studiere, dann Medizin“
Schon Peters Vater, Großvater und Urgroßvater sind Landärzte in Wald-Michelbach. Als Jugendlicher hat er das Gefühl, er muss raus aus dieser vorfabrizierten Schiene. In der Schule erzählt er jedem, der es hören will: „Wenn ich eins nicht studiere, dann Medizin.“ Nach dem Zivildienst in einem Krankenhaus versucht er es doch.
Als Student macht er vieles, aber nicht studieren. Erst nach drei Jahren kriegt er die Kurve. Die Entscheidung, Psychiater zu werden, das unmedizinischste Fach in der Medizin, habe vielleicht mit dieser Ambivalenz zu tun, sagt er. „Es war ein großer Schritt für mich, meinen Eltern zu sagen: Die Tradition hört mit mir auf, ich komme nicht zurück in den Odenwald.“
Ein Beruf, der fesselt
Zufall leitet ihn mehr als Zielstrebigkeit. Ein Kollege in der Tübinger Psychiatrie arbeitet nebenberuflich als Gutachter und fragt ihn, ob er auch mal Interesse hätte. Winckler findet es sofort spannend. „Bei allem Leid, das einem begegnet, fesseln einen diese Fälle natürlich auch. Ich kenne keinen Kollegen, der mit 67 in Rente geht. Die machen alle weiter.“
Big Data bei der Polizei: die Computer-Cops
Gut 2000 Gutachten hat er seitdem erstellt. 2000 Menschen in ihrer ganzen Tragik, all ihrer Schuld. Großspurige, Stille, Getriebene, Lumpen, Raffinierte, Dumme. Typen ohne einen Funken Mitleid. Mörder, die er gut leiden kann. „Dann muss man aufpassen: Es ist schwieriger, jemanden objektiv zu begutachten, den man sympathisch findet.“
Es braucht Empathie für einen Killer
Bad or mad. Aus den Gesprächen in den Besuchsräumen der Haftanstalt oder Psychiatrie muss er die Wahrheit filtern. Was trieb etwa den Machetenmörder vom Fasanenhof an? Dazu braucht es Empathie für einen Killer. „Sonst erfahre ich gar nichts.“ War es kaltblütige Rache? Hörte er Stimmen, die, wie es im Fachjargon heißt, einen „starken Handlungssog“ ausübten? Solche Zustände vergehen nicht schlagartig. Deshalb sollte der forensische Psychiater möglichst schnell nach einer Tat eingeschaltet werden.
Erfahrungsgemäß sind etwa zehn Prozent seiner Gegenüber krank, mehr als die Hälfte voll schuldfähig. Schwieriger wird es für Winckler auf dem weiten Feld der verminderten Steuerungsfähigkeit, wenn etwa hochgradige Affekte oder Drogen den „inneren Freiheitsgrad“ eines Verbrechers einschränkten. Dann ändert sich der Strafrahmen.
Die Biografie ist von großem Wert
Winckler hat häufig mit Tätern zu tun, die einen Dolmetscher brauchen. Die Nuancen, wie einer etwas sagt, gehen so verloren. Von anderen Unzulänglichkeiten ganz abgesehen: Manchmal antwortet ein Täter ausschweifend – und der Dolmetscher übersetzt die Suada mit einem knappen Satz. „Dann kann ich das Gespräch eigentlich schon abhaken.“
Ein pensionierter Postbeamter redete gar nicht mit ihm. Er hatte zwei Menschen erschossen, einen dritten schwer verletzt. „Dass ein Mann im hohen Alter, der noch nie strafrechtlich auffällig wurde, so eine Serie hinlegt, ist höchst ungewöhnlich.“ Bei der Festnahme sagte er nur: „Ihr verhaftet den Falschen.“ Und schwieg fortan. „Bis zum Schluss blieb er eine Blackbox.“
Winckler begutachtete ihn nach Aktenlage. 20 Leitz-Ordner. Die Polizei hatte so akribisch ermittelt, dass sich ein dichtes Bild zumindest der äußeren Fassade ergab. Für Winckler ist so eine Spur, die eine Biografie hinterlässt, von großem Wert. Hinter jeder Tat steht eine Entwicklung.
Es gibt Trickser und Manipulierer
Bad or mad. Ein schuldfähiger Räuber hat selbst bei miserabler Führung irgendwann seine Strafe verbüßt und darf raus. Beim psychisch kranken Räuber liegt es an Gutachtern wie Winckler, ob sich die Tür in die Freiheit je wieder öffnet. „Es kann fatal sein, wenn einer auf irre macht.“ Manchmal kommt es zu solchen Psychoduellen: begnadete Trickser und Manipulierer, die mit Winckler spielen. Er muss der noch bessere Entlarver sein.
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Bei einem Serienbankräuber lag er falsch. „Ein hochintelligenter, charakterlich äußerst schwieriger Mann.“ Nach langer Haft stand die Frage im Raum, ob er entlassen werden kann. „Er vermittelte mir, dass er begriffen hat, was schiefgelaufen ist. Dass er mit seinen charismatischen Fähigkeiten eine neue Richtung einschlagen wird.“ Zwei Jahre später überfiel er die nächste Bank.
Ein normaler Psychiater kann davon ausgehen: Was der Patient ihm mitteilt, ist wahr. Winckler hingegen muss immer misstrauisch sein: „Das hat auch was Zersetzendes“, sagt er. „Es gibt Kollegen, die sind so zynisch geworden, die glauben gar nichts mehr.“
Der Zementmord nagt an ihm
Was macht es mit einem, wenn man über Jahrzehnte mehr Zeit mit Verbrechern und Verbrechen verbringt als mit der eigenen Familie? „Mit mir nichts“, sagt Winckler. „Wenn ich mich so mit Distanz reden höre, würde ich behaupten: Der Typ macht sich was vor. Aber ich habe einen Schalter, der effizient funktioniert. Ich arbeite zehn Stunden, danach denke ich nicht mehr daran. Andere Kollegen müssen das trainieren, ich konnte es gleich.“
Es gibt Fälle, da streikt sein Abschaltmodul. Der sogenannte Zementmord 2007 gehörte dazu. Der junge Haupttäter hatte einen 19-jährigen Schüler auf einem Feldweg bei Rommelshausen zu Tode geprügelt, die Leiche zerstückelt, Körperteile in Blumenkübel betoniert und im Neckar versenkt. Ein Gewaltakt mit kaum zu überbietender Brutalität und Sinnlosigkeit. „Besonders in Erinnerung ist mir, wie intensiv das Leid der Familie in der Hauptverhandlung spürbar war.“
Grausame Tat an elfjährigen Junge
Oder Tobias, ein elfjähriger Junge, der bei einem Weiher im Schönbuch getötet wurde. Erst elf Jahre später fand man den Täter. Er wollte den Buben missbrauchen. Weil Tobias sich wehrte, stach er 38-mal auf sein Zufallsopfer ein, schnitt ihm den Penis ab. Der Bub verblutete. Winckler begutachtete den Mann. Das Gericht urteilte: „lebenslänglich“ mit anschließender Sicherungsverwahrung.
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Im Gericht sitzt Winckler auf der guten Seite. Als Arzt ist er Dauergast in der Hölle – und nach einem Vierteljahrhundert Berufserfahrung überzeugt: Böse Menschen gibt es nicht, aber böse Taten. „Der gesunde Mensch hat die Freiheit, sich für das Böse zu entscheiden. Dem kranken Menschen ist diese Freiheit verloren gegangen.“
Der Strafverteidiger und Dramatiker Ferdinand von Schirach schreibt: „Der Mensch kann alles sein. Er kann Figaros Hochzeit komponieren, die Sixtinische Kapelle erschaffen und das Penicillin erfinden. Oder er kann Kriege führen, vergewaltigen, morden. Es ist immer der gleiche Mensch.“
Wie ticken Verteidiger, Staatsanwälte und Richter?
Peter Winckler sagt: „Jeder kann in eine Situation geraten, in der die kulturellen Barrieren wegfallen, die uns anerzogen oder vielleicht schon biologisch vorgegeben sind.“
Gehört es zum Spezialisten für Abgründe, auch im Alltag alle Leute forensisch abzuchecken? Den Bäcker? Den Klassenlehrer? Den Installateur? „Überhaupt nicht“, sagt Winckler, „meinen Diagnostikapparat werfe ich nur im Dienst an.“ Wenn ein Prozess wieder kein Ende nehmen will, macht er sich im Gerichtssaal manchmal Gedanken über die Psychostruktur beteiligter Verteidiger, Staatsanwälte, Richter. Ein netter Zeitvertreib.
Freiheit für einen Mörder?
Ein Fall im vergangenen Jahr belastete ihn sehr: Ein Mann, der vor mehr als 15 Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, weil er drei Menschen die Kehle durchgeschnitten hatte. Das Gutachten eines Kollegen besagte verkürzt: Lasst ihn wieder raus. Dagegen liefen Vollzugsanstalt und Staatsanwaltschaft Sturm. Am Ende hing es am Zweitgutachter Winckler: Freiheit oder nicht? Er kam zum Ergebnis: Man kann es nicht riskieren. „Ob es richtig war, weiß ich nicht.“
Bad or mad. Wen hätte er gerne begutachtet? „Anders Breivik“, sagt er ohne Zögern. Den Mann, der vor acht Jahren in Norwegen 77 Menschen erschoss. „Und in der deutschen Geschichte vielleicht Göring oder Hitler.“ Oder Christian Voigt, ein Zimmerergehilfe aus Oberfranken, der 1910 die Wiener Gelegenheitsprostituierte Josefine Peer erstach, sie im Blutrausch förmlich zerfleischte. In seinem Kerker begann er, Gedichte zu schreiben. Eines geht so: „Die schwankende Galeere/ mit der ich fuhr hinaus/ Auf hohe See, die schwere/ zerbrach im Sturmgebraus.“