Emphase hinter der hohen Denkerstirn: Der Schauspieler Edgar Selge, der seinen Figuren nichts schuldig bleibt, wird an diesem Dienstag siebzig.

Stuttgart - Es kann nicht anders sein: Theater hält Körper, Geist und Seele jung, frisch wie am ersten Tag. Wie sonst ließe sich erklären, dass der vor Vitalität strotzende, Bühnenmarathons mit Leichtigkeit absolvierende, allzeit geistesgegenwärtige Edgar Selge an diesem Dienstag siebzig wird? Andere haben sich in diesem Alter längst zur Ruhe gesetzt, er aber setzte zu seinem zweiten Frühling an. 2016 holte er den Titel „Schauspieler des Jahres“ für seine Rolle als François in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“, ein fast dreistündiges Selge-Solo im Hamburger Schauspielhaus, das Kritiker und Zuschauer noch immer in Entzückung versetzt.

 

Mit diesem Triumph rückte Selge, der zusammen mit seiner Frau Franziska Walser dem Ensemble des Stuttgarter Schauspiels angehört, schlagartig wieder in den Blick der Öffentlichkeit. Ohne die Bühne je ganz aufzugeben, hatte er sich in den neunziger Jahren vom „Sklavensystem Theater“ verabschiedet und ging nach seiner Zeit an den Münchner Kammerspielen kein festes Engagement mehr ein. Stattdessen wandte er sich dem Film zu und wurde als einarmiger Kommissar Tauber im „Polizeiruf 110“ einem breiten Publikum bekannt. Dafür, als depressiver, der Trunksucht verfallener Kriminaler heimste er Grimme-Preise ein. Doch dann: die fulminante „Unterwerfung“, dieses machtvolle Bühnen-Comeback mit einem Monolog, der ihn wieder spüren ließ, was er eigentlich sei. „Ich bin Theaterschauspieler“, sagte Selge – hohe Stirn, tiefliegende Augen, stahlblauer Blick – damals im Gespräch mit unserer Zeitung.

Nacktheit als Kostüm

Selge gehört zur Sorte der hochgradig reflektierten Spieler, die in jeder Sekunde wissen, was sie tun. Würde man einen Selge-Auftritt in Standbilder zerlegen, könnte man hinter jeder Körperhaltung, jeder Gestik, jeder Mimik ein Bedeutungsfenster aufploppen lassen – und hinter jedem seiner Sätze einen Seelenzustand, der anders als die immer klare Artikulation von der sehr unklaren, gemischten, widersprüchlichen Verfasstheit seiner Figuren kündet. Dass sein Spiel dennoch nicht die kalte Aura des perfekten Hand- und Mundwerkers umgibt, liegt an der ungeheuren Spontaneität der scheinbar dem Bühnenaugenblick abgerungenen Einfälle, mit denen er die über dem Abgrund balancierenden Bühnenfiguren charakterisiert. Selge kaschiert perfekt die Mühen, die er als empathischer Darsteller auf sich nimmt – und heraus kommt jene Houellebecq-Rolle, die unsere Kritikerin zum Niederknien schön fand und der sie eine „funkelnde Erzähllust mit spielerischer und rhetorischer Intensität“ bescheinigte. Die „Unterwerfung“ steht im April in Hamburg wieder auf dem Programm, aber auch als Fernsehfilm ist der Stoff, von der islamistischen Machtübernahme in Frankreich handelnd, bereits adaptiert: mit Selge in der Hauptrolle des müden François.

Und in Stuttgart? Auch hier hat der Ausnahmespieler, einer der Trümpfe des scheidenden Intendanten Armin Petras, in zahlreichen Inszenierungen überzeugt. Er erreichte zwar nicht immer ganz die Höhe seiner Kunst, aber doch häufig genug, um auch im Schauspielhaus zum Publikumsliebling zu werden. Unvergessen sein Adam im „Zerbrochnen Krug“, wo er die Nacktheit des mit Blessuren übersäten Dorfrichters wie ein Kostüm trägt. Wie ein Adamskostüm eben, das an das Paradies erinnert, aus dem er sich am Gerichtstag selber vertreiben muss. Wahn und Sinn, schrecklich schön vereint in einem aberwitzig tollen, an Menschenkenntnis überreichen Spiels – und einer der kostbaren Selge-Momente, die auch hartnäckigste Skeptiker wieder zum Theater bekehren konnten.