Der Siegeszug der Jogginghose ist nur ein Aspekt des aufstrebenden lockeren Kleidungsstils, der sich auf der Straße ebenso wie im Büro beobachten lässt. Doch was steckt hinter dem Schlabberlook-Trend?

Digital Desk: Ann-Kathrin Schröppel (aks)

Stuttgart - Die Schamschwelle des Modebewusstseins liegt tief, sehr tief. Man könnte sagen, sie schlabbere kurz über dem Boden, ähnlich wie die jüngste textile Allzweckwaffe der breiten Masse: die Jogginghose. Ob im Supermarkt oder in der Kinoschlange – das ehemals der körperlichen Ertüchtigung oder dem heimischen Sofa vorbehaltene Beinkleid entwickelt sich mehr und mehr zu einem Alltagskleidungsstück. Doch nicht nur sie, auch die Leggins oder der unförmige Pullover sind ein Zeichen des aufstrebenden lockeren Kleidungsstils. Im Büro trägt man T-Shirt anstatt Bluse oder Hemd, Turnschuhe lösen die gewienerten Halbschuhe ab und die Krawatten sind schon lange abgebunden – selbst in Vorstandsetagen.

 

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Doch warum ist der Schlabberlook an die Stelle eines adretten modischen Erscheinungsbildes getreten? Jahrzehntelang hat man den Menschen, zumal in Deutschland, eingebläut, es komme nicht auf Äußerlichkeiten an. Es zählten nur die inneren Werte. Wichtig sei, dass man sich wohlfühle. Das Ergebnis ist nun überall zu besichtigen. Bernhard Roetzel hat mehrere Bücher zum Thema Mode veröffentlicht und gilt als Hüter des guten Geschmacks. Im Gespräch mit unserer Zeitung stellt er fest: „Kleidung muss heute in erster Linie bequem sein. Dabei ist der Gedanke, mittels der eigenen Kleidung ein Statement zu setzen oder eine Botschaft zu vermitteln, in den Hintergrund getreten.“

Bügeln ist den meisten Leuten schon zu viel

Auch die erforderliche Pflege bestimmter Kleidung passe nicht recht mit dem Hang zur Bequemlichkeit zusammen, meint er: „Bügeln ist den meisten Leuten schon zu viel. Deshalb greifen sie lieber zum einfachen T-Shirt als zum Hemd oder zur Bluse. Der eigene Komfortanspruch siegt über die Lust an der Mode.“ Das vorherrschende Wohlfühl-Gefühl stehe in einem krassen Gegensatz zu der konventionellen Ansicht, dass man sich in der Öffentlichkeit einem bestimmten Dresscode zu unterwerfen habe.

Barbara Vinken, eine der führenden Modeexpertinnen Deutschlands und Autorin des Buches „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“, spricht in diesem Zusammenhang von einem „Code der Wohlanständigkeit“. Die Mehrheit habe eine bestimmte Vorstellung davon, wie alltägliche Kleidung auszusehen hat. Beeinflusst werde dieses Bild von den geltenden Konventionen. „Dieser Code legt die Anspruchshaltung an sich, aber auch an andere fest. Es erfolgt ein ständiges Abgleichen. Wer nicht ins Raster passt, fällt auf“, weiß Vinken. Der Anspruch an sich selbst sowie die Erwartungshaltung der Gesellschaft bestimmen also, wie wir uns in der Öffentlichkeit kleiden.

Sportklamotten als Alltagsmode

Vinken verbindet die gestiegene Bequemlichkeit mit der Übertragung von Sportmode in Alltagsmode, die dadurch zu einer Norm geworden ist. „Alle großen Entwicklungen in der Mode und der damit verbundene Wandel unserer Konventionen lassen sich auf die Wirkung der Sportmode als Motiv für Alltagskleidung erklären.“ Es dauere zwar eine gewisse Zeit, bis diese Übertragung ankomme, aber auf diese Weise würden Trends in der Mode immer funktionieren, sagt die Expertin unserer Zeitung.

Die eigene Bequemlichkeitshaltung sei auch nach außen hin vertretbar, da die Ableitung des sozialen Status einer Person anhand der Kleidung immer schwieriger werde, sagt Roetzel. „Menschen sind heute nicht mehr darauf angewiesen, sich durch ihre Kleidung zu profilieren.“ Die Zeiten, in denen bestimmte Berufsgruppen wie Rechtsanwälte oder Banker nur in schneidigen Maßanzügen mit passender Krawatte die öffentliche Bühne betraten, seien vorbei, stellt Roetzel fest. „Heute sieht man diese Personen in sportiven Outdoorjacken mit Freizeitschuhen die Straße entlanggehen. Das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Der gesellschaftliche modische Standard hat sich doch sehr verändert.“

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Besonders der kleine Mann habe früher darauf geachtet, dass er sich bei der Kleidung keine Blöße gebe, auch wenn das Geld nicht für Pariser Chic gereicht habe, weiß Roetzel. „Wenn man selbst nicht viel Geld hat, ist Kleidung die billigste Methode, sich zu profilieren und nach außen etwas darzustellen. Deshalb ist es in Gesellschaften, in denen die Menschen wenig haben, immer noch das Wichtigste, wie man sich in der Öffentlichkeit präsentiert.“ Als ein Beispiel dienen Roetzel die sogenannten Sapeurs in der Demokratischen Republik Kongo. Als Sapeur werden dort Männer bezeichnet, die sich im Stil eines Dandys oder auch Gentlemans entsprechend elegant oder extravagant kleiden und deren Auftreten damit in einem deutlichen Kontrast zu ihren Lebensumständen steht.

Die Jogginghose erobert den Laufsteg

Dass auch eine Jogginghose durchaus extravagant sein kann, weiß man inzwischen. Sie hat es auf die Laufstege von Paris und Mailand geschafft; bekannte Modemarken wie Versace oder Escada haben die Schlabberhosen in ihre Kollektionen aufgenommen. Stilikone und Chanel-Chefdesigner Karl Lagerfeld wollte der aufkommenden Jogginghose einst den Todesstoß versetzen mit seiner Warnung: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ 2015 brachte der Meister höchstpersönlich dann eine exklusive „Sport City“-Kollektion für das deutsche Online-Versandunternehmen Zalando heraus. Unter den Kleidungsstücken: eine Jogginghose. Was zeigt: Es ist nicht ganz egal, mit wessen Segen die Mode knapp über dem Boden schlabbert.