Leutkirch - Auf 47,81425 Grad nördlicher Breite und 9,99505 Grad östlicher Länge liegt die Ewigkeit – wenn man die Sache geografisch-nüchtern angeht. Bricht man die Ewigkeit verwaltungstechnisch herunter, befindet man sich dann im württembergischen Allgäu, genauer im Leutkircher Stadtteil Tautenhofen und dort im Weiler mit dem besonderen Namen: Ewigkeit.
Die Adresse klingt schon mal vielversprechend. Vor allem für einen Schriftsteller. Imre Török ist rein zufällig in Ewigkeit gelandet. Der 69-Jährige hat bis vor einiger Zeit einen Weiler weiter gewohnt – bis ihm wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde. Die Wohnungssuche, sagt der Dichter, „in dieser Urlaubsregion war so schwierig wie in der Großstadt“.
Török hat bei vielen angeklopft – und dann das gefunden, was er sich erträumt hatte: Bauernhof mit Holzbank vor der Haustür, die Hühner der Vermieterin im Garten, das nächste Gehöft weit entfernt, Felder und Wälder und die Galluskapelle, am Horizont die Autobahnkapelle an der A 96. Still ist es in Ewigkeit tagsüber nicht. Die Ruhe kommt erst mit der Nacht. „Abends, wenn keine Autos mehr fahren, gehe ich über die Wiesen, tapse durch die Dunkelheit und versuche zu riechen und zu hören“, sagt Török. Die Landschaft gibt dem Kopfmenschen Erdung.
Das Foto von sich selbst neben dem grünen Ortsschild „Ewigkeit“ hat er auf seiner Facebook-Seite eingestellt. „Eine vortreffliche Adresse für einen Schriftsteller“, sagt er. Eigentlich, so denkt man, ist das doch eine 1-a-Vorlage für einen Roman. Schließlich ist Imre Török, der Mann mit dem ungarischen Namen und dem schwäbisch-ungarischen Einschlag in seiner Sprache, als mehrmaliger Bundesvorsitzender des deutschen Schriftstellerverbandes immer mit Texten und Autoren zugange. Er mailt hin und wieder mit der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Die Literaten Imre Kertez, Peter Esterhazy, Jürgen Lodemann, Eva Menasse oder Claire Beyer gehören oder gehörten ebenso zu seinen Kontakten wie unzählige andere.
Fürsprecher der Literaten
Was für ein Leben: Kindheit in Ungarn, der Vater Diplomat, die Mutter in ihren frühen Jahren Balletttänzerin und Operettensängerin am Nationaltheater Weimar. Dann Flucht der Familie nach Deutschland. Erst Lübeck, dann Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Tübingen. Dort ist Török noch Schüler des Philosophen Ernst Bloch. Später arbeitet er in der Erwachsenenbildung und noch später als Theaterleiter und Journalist. Und immer ist er als Fürsprecher der Literaten – und als Sohn – unterwegs. Ihren 97. Geburtstag hat Imre Töröks Mutter kürzlich natürlich in Ewigkeit gefeiert. Der Namen übt offenbar auf alle eine magische Anziehungskraft aus. Die Feier zum Hundertsten ist schon ausgemacht. Dazwischen schraubt Török weiter mit Freunden seine unzähligen Bücherregale zusammen.
Wenn also die Zeit gerade nicht für einen Roman reicht, dann doch für einen Rundgang durch den Weiler mit seinen neun Häusern und Höfen. Und für ein paar Skizzen. Die Häuser hier sind durchnummeriert. Als Imre Török vor drei Monaten hergezogen ist, haben noch die Dahlien im Bauerngarten vor seiner guten Stube geblüht. Oder um es in seinen Worten zu sagen:
„Dahlien kennen oder fühlen keine herbstliche Melancholie. Leben einfach und gebären Schönheit. Wie alle ihre Geschwisterwesen im Pflanzendasein. Auch die Bäume, an meinem unschlüssigen Gang am Waldrand entlang, werden weder melancholisch oder traurig noch frohgemut und glücklich. Eine stumme Nacktheit, nachdem alle unbeschriebenen Blätter verweht sind.
Vielleicht wird schuldloses Glück auch Menschen zuteil, wenn sie den richtigen Wohnort gefunden haben? Eine Ewigkeit, zusammen mit ihrer schüchtern schönen Tochter, der hüllenlosen Poesie, wird sie mich hier darin unterrichten, die Schönheit der reinen Leere zu empfinden.“
Inzwischen stehen die Schneezäune auf den Wiesen, um Schneeverwehungen zu verhindern. Der Wind bläst ziemlich machtvoll und eisig übers freie Feld. Wie wäre es mit einem Bericht aus Ewigkeit? „Die Idee gefällt mir sehr“, hat er am Telefon gesagt. Über andere Menschen schreibe er gerne, „aber was soll ich über mich schreiben?“. Sei das nicht ein bisschen eitel? Stattdessen macht er sich auf Geschichtensuche bei seinen Nachbarn und erklärt, wie man das Navi programmieren muss, „denn es findet sonst die Ewigkeit nicht“. Na, das klingt ja vielversprechend. In Töröks Ewigkeitserforschung liest sich das so:
„Nicht nur in alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, werden Märchenträume wahr. W enn ich von Reisen kommend die Autobahn verlasse, freue ich mich auf mein abgeschiedenes Zuhause, wohin ich durch einen anderen Weiler mit dem wunderschönen Namen Ewigkeit fahre. Jedes Mal dachte ich, wie bezaubernd es wäre, in einem der Häuser zu wohnen. Nun bin ich in der Ewigkeit angekommen.“
Ein paar Tage später öffnet Imre Török die Tür. Grauer Schnauzbart, roter Pulli, schwarze Hose. „Komm, wir machen eine Runde durch die Ewigkeit“, sagt er. Der Weg führt quer über die Wiesen zum ältesten Haus hier. 1793 wurde es erbaut. Zwischen damals und heute wurde es umgebaut. Imre Török hat sich in den vergangenen Tagen schon einmal zu seinem Bewohner gesetzt, gefragt, zugehört und aufgeschrieben. Anton König hat ihm auch die Lage von Ewigkeit in der unnachahmlichen Art des Alteingesessenen wie folgt beschrieben: „Wenn es nach Tautenhofen nauf, nach Herlazhofen nom, nach Heggelbach nab und nach Leutkirch nein geht, dann bist du in der Ewigkeit.“
So geht die Geschichte in Töröks Skizzenbuch weiter:
„In dem ältesten, inzwischen teils umgebauten Haus des Weilers erzählt mir mein Nachbar Anton König. Wir sitzen unter der niedrigen Decke in der guten Stube mit Kachelofen. Die Vorfahren des 79-jährigen Bauern waren noch Leibeigene der Fürsten, deren Schloss man vom Weiler aus sieht. Im Archiv hat der heimatkundlich hochinteressierte König schon forschen dürfen. Nach zwei Stunden fasziniertem Zuhören ahne ich, das Wissen dieses gewitzten, gutmütigen Ewigkeitlers reicht für einen Roman. Und wir sind ja Kollegen, auch wenn er das bescheiden entschieden von sich weist.“
Anton König erzählt, dass er, statt Landwirt zu werden, das Schreiben gerne zu seinem Beruf gemacht hätte. Der Kummer über dieses verpasste Leben schwingt noch immer mit, wenn er davon redet. Die Stimme stockt ihm auch, wenn er vom Verkauf seiner Tiere erzählt. Weil die Hofauflösung ganz schnell gehen musste, wussten die Viehhändler, dass er unter Druck stand. Brutal trieben sie die Tiere auf die Transporter. „Ich wäre am liebsten davongelaufen“, sagt Anton König. „Aber ich musste ja da bleiben.“ Tränen stehen ihm in den Augen. Er hat seine Tiere auf seine Art geliebt und respektiert. Török gefällt das. Heute ist keiner mehr Landwirt im Weiler.
Was hätte aus König werden können?
Inzwischen sitzen die beiden Männer bei einem Bier am Küchentisch. Vor einiger Zeit schon hat König den passenden Song dazu geschrieben. In seinem „Ewigkeitlerlied“ heißt es: „Grüne Wiesa, dunkle Wälder, viele Bloma, guate Felder, dorom hebt das Glas in d’Höh, ihr Leit, denn mir wohnet in der Ewigkeit!“
Was hätte aus König wohl werden können, hätte er gedurft, wie er wollte? Török fasst die Biografie seines Nachbarn zusammen:
„Schon der Bauernbub schrieb Gedichte, war in der Schule in Deutsch sehr gut. Zu Fuß ging es in die Dorfschule, sommers barfuß, im Winter auf Skiern. Acht Klassenstufen in einem Raum, mit einem Lehrer für sämtliche Fächer. Nach Schule und Hausaufgaben mussten die Kinder bis zum Schlafengehen draußen arbeiten. Erst später, als eigener Herr auf dem Hof, nahm Anton König sich Zeit fürs Literarische, schrieb ein Krippenspiel für die Silvesterkapelle und ein Theaterstück für die Ewigkeit, das auch darüber hinaus bekannt ist.“
Anton König hätte gerne gehabt, dass das Stück öfters aufgeführt worden wäre. So ist es halt versunken in der Ewigkeit. Aber immerhin hat ihm Török genau zugehört und eine kurze Inhaltsangabe verfasst:
„Das Schelmenstück erzählt die Geschichte eines Ewigkeitsbewohners vor langer Zeit, der Bauer und Schuster war und tatsächlich Teufel hieß. Der Handwerker, bekam auch reichlich Aufträge, zuletzt in einer kleinen Siedlung mit dem Namen Höll bei Wolfegg. Da Bauer Teufel gut verdient hatte, löschte er in den Wirtshäusern seines Heimwegs den Bierdurst so kräftig, dass er die letzte Station vor seiner Heimkehr, den Gasthof Adler in Tautenhofen, ziemlich knülle erreichte. Dort wurde weiter gezecht und gefeiert, bis es den Wirtsleuten zu bunt geworden war. Sie holten den Landjäger, der nähere Angaben über das Woher und Wohin des Schusters verlangte. Er heiße Teufel, komme gerade von der Hölle und wolle in die Ewigkeit. Da fühlte sich der Landjäger auf den Arm genommen und ließ den Bauern in den Kerker werfen. Obwohl der die reine Wahrheit gesprochen hatte.“
Eigentlich, sagt Imre Török zum Abschied, überfalle er seine Nachbarn ja nicht sofort mit seiner Neugier. Aber vielleicht ist das ja der Beginn eines Romanes. Wer weiß.