Sigmar Gabriel, Vizekanzler und SPD-Vorsitzender, lässt sich wieder einmal von Rechten zu einer unstaatsmännischen Handlung hinreißen. Diesmal hat er pöbelnden Neonazis den „Stinkefinger“ entgegengehalten. Dies hat mit seiner Lebensgeschichte zu tun.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Sigmar Gabriel, der SPD-Chef und mögliche Kanzlerkandidat, ist in dieser politischen Sommerpause besonders aktiv: Er macht kräftig Vorwahlkampf, fast jeden Tag hört man einen neuen Vorschlag von ihm – manche Meldungen sind wenig erfolgversprechend. So trägt nicht jeder Auftritt dazu bei, sein sozialdemokratisches Profil zu schärfen. Im niedersächsischen Salzgitter hat der Vizekanzler ganz unstaatsmännisch pöbelnden Neonazis den rechten „Stinkefinger“ gezeigt, nachdem sie ihn als „Volksverräter“ beleidigt haben. Öffentlich wurde diese Szene vom vorigen Freitag vor einer Wahlkampfveranstaltung erst jetzt: durch ein Video, das eine rechtsextreme Organisation auf Facebook gepostet hatte.

 

Ausgerechnet Gabriel, der impulsiven Attacken auf Freund und Feind nicht abgeneigt ist, lässt sich wieder einmal aus der Fassung bringen. Vor fast genau einem Jahr forderte er im sächsischen Heidenau, das wegen der tagelangen Bedrohung von Flüchtlingen eine unrühmliche Bekanntheit erlangt hatte, eine konsequente Bestrafung der Fremdenhasser. „Man darf diesen Typen, diesem braunen Mob keinen Millimeter Raum geben“, sagte er. Für dieses „Pack“ könne es „nur eine einzige Antwort geben: Polizei, Staatsanwaltsschaft und für jeden, den wir fassen, auch Gefängnis.“ Seither rufen die Rechtspopulisten im Osten den Politikern und Medien zu: „Wir sind das Pack.“ Gabriel hatte sie mit seinem Kraftausdruck praktisch geadelt. Massenhaft wurde die SPD mit rassistischen Mails eingedeckt, die Rechtsextremen entdeckten den Vizekanzler als ihr Feindbild.

Der Vater war ein „unverbesserlicher Nazi“

Das Video aus Salzgitter zeigt nun, wie sich die ein Dutzend vermummter Demonstranten – offenbar von einer rechtsextremen Jugendorganisation der NPD – im Fachwerk-Ensemble einer Gruppe von Genossen entgegenstellen und ein Spruchband mit der Aufschrift „Volksverräter“ hochhalten. Gabriel kommt gerade von einem Gespräch mit Flüchtlingen, reagiert zunächst gelassen und versucht einen Parteifreund, von einer Reaktion abzubringen. Er steckt die Hände in die Hosentaschen und lächelt noch bitter, bietet den Störern aber eine Diskussion an, sofern sie sich demaskieren. Stattdessen ruft ihm einer der Pöbler mit schwarz-rot-gold bemalten Gesichtern zu: „Mensch, dein Vater hat sein Land geliebt. Und was tust du? Du zerstörst es. Ihr Kommunisten, Kulturmarxisten!“ Und sie brüllen die alte Parole der NSDAP: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Später stellt die Polizei die Identität der Vermummten fest und geleitet sie aus der Stadt.

Peer Steinbrück hat als Kanzlerkandidat der SPD die „Stinkefinger“-Geste vor drei Jahren hoffähig gemacht – auf einem Titelbild des „SZ-Magazins“. Bei Gabriel hingegen wurde ein wunder Punkt getroffen: Er hatte schon Anfang 2013 ausführlich über seinen 2012 verstorbenen Vater als „unverbesserlichen Nazi“ berichtet sowie über seine Leidenszeit als Jugendlicher. Mit 16 Jahren hatte er eher zufällig von der Gesinnung des Vaters erfahren. Für Walter Gabriel habe das Konzentrationslager Auschwitz „nie existiert“, und „die Juden und Polen“ hätten den Zweiten Weltkrieg verursacht. Reden ließ er nicht mit sich: „Was nicht sein durfte, konnte auch nicht sein“, berichtete Sigmar Gabriel. Diese Lebensbeichte zahlten ihm die pöbelnden Nazis von Salzgitter nun heim. So ließ sich der SPD-Chef doch kurz provozieren und hob im Wegdrehen den Mittelfinger.