Die Proteste gegen den Hoffenheimer Mäzen Dietmar Hopp und die Sanktionen des DFB erhitzen auch weiterhin die Gemüter. Der Fanforscher Johannes Heil, Professor an der Macromedia-Hochschule in Stuttgart, erklärt, warum Spielabbrüche keine Option sind und wie der Konflikt zu befrieden ist.

Stuttgart - Im Verhältnis zwischen den deutschen Fußballverbänden und vielen Fans ist eine neue Eiszeit ausgebrochen. Der Stuttgarter Wissenschaftler und Fanexperte Johannes Heil fürchtet, der Konflikt könnte noch weiter eskalieren.

 

Herr Heil, in den Bundesligastadien gibt es seit Jahren lautstarken Protest gegen Dietmar Hopp. Warum ist die Aufregung ausgerechnet jetzt so groß?

Meiner Einschätzung nach hängt der Grad der Aufregung im Wesentlichen von der medialen Aufmerksamkeit ab – und die ist aktuell enorm. Sie hat wiederum große Hebelwirkung auf die Reaktionen von Vereinen und Funktionären. Stellen Sie sich vor, die Transparente der Ultras wären nicht in den Medien zitiert oder abgebildet worden – die ganze Sache wäre längst vergessen und vorbei.

In Hoffenheim hat aber der Schiedsrichter die Vorlage geliefert, indem er die Mannschaften vorübergehend in die Kabine geschickt hat.

Ja, das war neu, faktisch ist aber nichts eskaliert. Wenn der FC Bayern und die TSG Hoffenheim die letzten Minuten beim Spielstand von 6:0 ausplätschern lassen, ist das vergleichsweise harmlos, für alle Beteiligten. Beim einem Spielstand von 1:1 wäre es etwas anderes gewesen, genauso wie bei einem Spielabbruch.

Sehen Sie in Spielabbrüchen ein probates Mittel?

Auf keinen Fall. Spielabbrüche haben ausschließlich dort einen Sinn, wo es um Sicherheit und Gesundheit, um die Abwendung von Gefahren für Leib und Leben der Beteiligten geht. Und dazu wird es bei diesem Konflikt hoffentlich nicht kommen. Spielabbrüche als „Strafe“ eskalieren den Konflikt unnötig, treffen nicht zuletzt vor allem Unbeteiligte und schaden dem Sport insgesamt.

Sind Schmährufe gegen gegnerische Vereine oder auch einzelne Personen nicht schon immer identitätsstiftender Bestandteil der Fankultur gewesen – als Ausdruck der Abgrenzung?

Ganz richtig! Sprachliche Aggressionen von den Tribünen gab und gibt es im Sport immer. Sie unterscheiden sich allenfalls in der Drastik nach der Sportart und dem Temperament der jeweiligen Fangemeinde. Aber grundsätzlich gibt es im Sport diese „Schmäh- und Spottkultur“ und – so ungern man das heute hören mag – da gehört sie auch hin. Und zwar bereits seit der Erfindung des Sports in der griechischen Antike.

Was bei den Alten Griechen galt, gilt noch heute?

Ja. Diese „Kultur“ – ich gebrauche den Begriff an dieser Stelle mit Absicht – ist nicht das Problem, sondern ganz im Gegenteil: eine Lösung. Die Aggression im Stadion, auf dem Platz ebenso wie auf den Tribünen, ist ein Ventil. Der Besuch im Stadion stellt eine der wenigen zulässigen Möglichkeiten in unserer Gesellschaft dar, sich abzureagieren. Nehmen sie den Leuten diese Möglichkeit weg, wird der Sport überflüssig und sie haben ein Zuwachs an Aggression an anderen Schauplätzen. Was aber nicht heißen darf, dass das Stadion deswegen ein rechtsfreier Raum ist – im Gegenteil! Wenn beispielsweise ein Konterfei auf einem Banner im Fadenkreuz gezeigt wird, ist das in meinen Augen ein strafrechtlich relevanter Tatbestand.

Auf Schalke gab es zuletzt rassistische Beleidigungen gegen den Hertha-Profi Jordan Torunarigha. Wäre der große Aufschrei da nicht viel angebrachter gewesen als im Fall von Dietmar Hopp?

Ich will hier gar nicht den einen Vorfall gegen den anderen abwägen. Ich möchte vielmehr darauf hinweisen, warum überhaupt diese beiden Fälle es sind, die uns so unangenehm berühren oder sogar empören. Das liegt, denke ich, in einer viel zu wenig beachteten Gemeinsamkeit der Angriffe: Es handelt sich beide Male nämlich um den Angriff einer großen und anonymen Gruppe auf einen einzelnen. Das ist es, was beunruhigt – und zwar mehr und anders als wenn eine Fangruppe A die Fangruppe B, die Mannschaft B, oder die Stadt B kommunikativ angreift.

Wurde es von DFB und DFL in den vergangenen Jahren versäumt, stärker den Dialog mit den Fans zu suchen?

Dieser Eindruck drängt sich auf. Jetzt muss dringend die Frage diskutiert werden: Wo genau liegt die Grenze zwischen der Nutzung eines zum Sport gehörenden kommunikativen Freiraums und eben den Auswüchsen, die nicht mehr toleriert werden können. Das ist aber letztlich eine juristische oder sogar gesamtgesellschaftliche Diskussion.

Viele Ultras reklamieren für sich, den Kurs der Vereine und der ganzen Liga maßgeblich mitgestalten zu wollen. Ist dieser Anspruch berechtigt?

Dem Engagement der Ultras verdankt der Fußball einen großen Teil seiner öffentlichen Attraktivität. Die Reaktionen eines Publikums gehören unverzichtbar zur Inszenierung jedes Sports dazu - ohne sie gäbe es den Sport nicht einmal. Die Ultras sind gleichsam eine Gruppe von Modell-Zuschauern, sie sind die Cheerleader des Fußballs. Darin liegt ihre Aufgabe, und daraus leiten sie auch Ansprüche ab – aber genau darin liegt eben auch schon die Grenze ihrer Macht: sie ist kurzfristig und fokussiert.

Das bedeutet?

Auf Dauer unzufriedene, übel gelaunte und störende Ultras will und braucht niemand als Modelle - weder das übrige Publikum, noch die Akteure, Vereine, Sponsoren oder sonst irgendjemand. Verlieren die Aktionen der Ultras an Aufmerksamkeit oder an Zustimmung, ist es mit ihnen auch schon vorbei – und neue Fan-Gemeinden treten auf den Plan und nehmen ihren Platz ein.

Fürchten Sie dennoch, dass die Situation weiter eskalieren könnte?

Der Konflikt wird so lange eskalieren, bis es entweder eine Verständigung gibt – wofür ich derzeit aber gar keine Bereitschaft bei den Beteiligten erkennen kann -, oder bis die Medien den Konflikt nicht mehr weiter transportieren – wozu natürlich auch Interviews wie dieses gehören. Es gibt allerdings eine dritte Möglichkeit, die ich für wahrscheinlicher halte und die ich oft beobachte: Der Konflikt wird von einem anderen brisanten Thema abgelöst, das die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Was könnte das sein?

Zum Beispiel das Coronavirus, das in unseren Stadien ankommt, was ja gut möglich scheint. Dann werden eine Weile lang schlicht keine Spiele mehr vor Publikum ausgetragen und die Öffentlichkeit wird sich auf anderes konzentrieren.

Christoph Schickhardt, der Anwalt von Dietmar Hopp, fordert, der Staat müsse „die harte Hand zeigen“. Der richtige Weg?

Das mag für einen Anwalt eine verständliche Forderung sein, denn dafür wird er bezahlt. Das bedeutet aber nicht, dass das in der Sache ein guter Rat wäre. Der Staat hat hier gar keine besondere Aufgabe, sondern ist nur aufgefordert, das Stadion nicht zu einem rechtsfreien Raum werden zu lassen – ohne dabei dessen Charakter als Freiraum zu zerstören. Eine harte Hand – was immer das sein mag – hat da nichts verloren. Strafrechtlich relevante Tatbestände müssen aufgeklärt und verfolgt werden im Rahmen des geltenden Rechts. Nicht weniger, nicht mehr.

Wie sähe Ihre Lösung aus, die Situation zu befrieden?

Es gilt hier – wie immer in solchen Fällen – den Dissens in einer Sachfrage von dem Umgang der Beteiligten miteinander zu unterscheiden. Man kann unterschiedlicher Auffassung sein und dennoch respektvoll miteinander umgehen. Man muss sogar respektvoll miteinander umgehen, wenn man wirklich eine Lösung will. Der Konflikt muss beendet werden, um die Diskussion beginnen zu können! Und wie beendet man Konflikte? Zum Beispiel durch eine großzügige Geste, eine Entschuldigung etwa – die die andere Seite akzeptiert und erwidert. Da sind dann aber eben in jedem Fall beide Seiten gefordert.

Klingt nach einem frommen Wunsch. Die Fronten sind total verhärtet.

Einfach wird das nicht. Umso wichtiger wäre es für alle, einen Schritt zurückzumachen – und der Klügere fängt an…

Sehen Sie andernfalls den Fußball in seiner Rolle als Lieblingsunterhaltung der Deutschen gefährdet?

Überhaupt nicht! So hart das klingen mag: Durch die aktuellen Vorfälle steigt im Augenblick der Unterhaltungswert des Fußballs sogar noch.