Gleich mit zwei Produktionen ist der Regisseur Dieter Nelle zur Leistungsschau der Privattheater nach Hamburg eingeladen. Der Liebhaber präzise gesetzter Dialoge ist eine feste Größe in Stuttgarts freier Theaterszene.

Stuttgart - „Wenn gerade keine Schreiner am Werk sind, dann ist der einzige Lärm, den man hört, der Gesang der Mönchsgrasmücke.“ Dieter Nelle hat nicht nur auf der Bühne ein gutes Gespür für die leisen Töne. Das Studio Theater mit seinen 70 Plätzen liegt direkt an der Hohenheimer Straße. Vorne rauscht der Verkehr, wenige Meter entfernt hört man im idyllischen Theatergarten tatsächlich die Vögel in den Bäumen. Kürzlich hat Nelle hier die Premiere von „Sophie“ gefeiert.

 

Er hat dieses Stück um ein Frauenleben inszeniert, Britta Scheerer in der Titelrolle eine famose Vorstellung gegeben. Seit mehr als zehn Jahren arbeiten die beiden zusammen, ihr gemeinsamer Sohn ist sechs Jahre alt. In ein paar Tagen packen sie die Koffer, um nach Hamburg zu fahren. Die Privattheatertage stehen an: Eine Leistungsschau der Bühnen, die nicht Stadt- und nicht Staatstheater sind, die in der Regel mit chronischer Unterfinanzierung zu kämpfen haben, auf denen keine Performances und Textzertrümmerungen zelebriert werden, sondern klassisches Sprechtheater.

Von Hamlet bis Törless

Dieter Nelle hat mit 13 Gedichte geschrieben und mit 16 sein erstes Theaterstück. Seitdem lebt er von und mit dem Theater. Als Autor, Dramaturg und Regisseur. Bei den Privattheatertagen ist Nelle Dauergast. Zwölf Inszenierungen werden dafür jährlich aus rund 100 Einreichungen bundesweit ausgewählt. Vor drei Jahren hat Nelle mit seiner „Hamlet“-Inszenierung im Stuttgarter Forum Theater den „Monica Bleibtreu-Preis“ gewonnen, nominiert war es schon oft.

In dieser Runde, die am 11. Juni in Hamburg startet, ist er gleich zweimal dabei: Mit der Inszenierung von „Emmas Glück“, einem Monolog wiederum mit Britta Scheerer, und mit „Törless“, einer Studie der Gewalt, die am Münchner Team Theater gespielt wurde.

Als nächstes: Wohnungsnot

Auch seine eigene Lebensgeschichte hat der 61-jährige Nelle schon einmal auf die Bühne gebracht: „selbst fremd“ heißt das Stück, in dem auch sein Zwillingsbruder in Videoaufnahmen zu sehen war. Dieter Nelle hat ihn erst mit 37 Jahren kennengelernt. Vorher wuchsen die Brüder bei unterschiedlichen Adoptiveltern auf.

„Es macht mich schon stolz, dass ich gleich mit zwei Arbeiten für Hamburg nominiert bin. Ich bin immer wieder gern dort“, sagt Nelle und dreht sich eine Zigarette auf der Bank im Schatten. „Und eigentlich ist immer der Küster dabei.“ Der Küster, das ist Christof Küster, der Intendant des Studio Theaters, der in diesem Jahr in Hamburg die „Schulz-Story“ zeigt. Ein Stuttgarter Theater-Familientreffen also. Wobei: Am Tag nach der Vorstellung steht schon wieder die Abreise an, die nächsten Proben können nicht warten. Eine Aufführungsreihe an öffentlichen Plätzen im Stuttgarter Osten und ein Stück über Wohnungsnot mit dem Theater Lokstoff sind die nächsten Projekte.

Beziehungsleben und Bühnenarbeit

Nelles Arbeitskalender ist gut gefüllt. Das sah am Jahresanfang noch anders aus. „Wenn Britta und ich jeweils vier Produktionen machen, kommen wir über die Runden“, sagt Nelle. Seit 19 arbeitet er frei, ökonomische Unsicherheit schreckt ihn nicht. Dass es immer wieder seine Frau ist, die er inszeniert, bereitet auf der Beziehungsebene keine Probleme: „Auf der Bühne ist Britta für mich eine andere Person. Wir reden zuhause auch nicht über die Proben.“ Privat macht es die Work-Life-Balance schon schwieriger. Wenn in den Endproben nicht die Oma anreisen würde, ginge es nicht.

25 Jahre hat der im Ruhrgebiet und im Rheinland aufgewachsene Theatermann in München gelebt, seit drei Jahren wohnt er in Stuttgart und noch viel länger inszeniert er dort. Vor allem am Forum und am Studio Theater. Klassiker von Shakespeare und Sophokles genauso wie aktuelle Stoffe. Die Stücke müssen nur eine Bedingung erfüllen: „Ich ertrage es nicht, im Theater schlechte Texte zu hören“, sagt Liebhaber der Worte. „Die Verdichtung von Erfahrung, die ein guter Autor in einem Text erreicht, die interessiert mich“, sagt Nelle. „Daran will ich mit den Schauspielern, mit Musik und mit Räumen arbeiten.“

Mehr als Guckkasten

Behauptungstheater, in dem der Ausgang von vornherein feststeht kann er nicht leiden, die Widersprüchlichkeit von Figuren interessiert ihn. Deshalb kann er auch von Shakespeare nicht lassen: „Der größte Mistkerl wird noch nachvollziehbar in seinen Stücken“. Sein Fokus auf das Wort will Nelle aber nicht als Beschränkung verstanden wissen: „Meine Theaterlust ist nicht auf Guckkastenbühnen begrenzt“, sagt er.

Aber die Worte, die auf der Bühne klingen müssen, sollten auch einen inneren Resonanzraum beim Publikum erzeugen. Bei „Sophie“ ist das gelungen. Jetzt muss sich zeigen, ob der für den intimen Rahmen des La Lune Theater inszenierte Monolog von „Emmas Glück“ auch in einem großen Theatersaal bestehen kann. Am 23. Juni wissen wir mehr. Dann stehen die Gewinner der vier verschiedenen Kategorien bei den Privattheatertagen fest.