Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

 
Langläufer – der Mercedes W 124 Foto: Daimler AG
80er Jahre - Auf die achtziger Jahre zurückzublicken hat etwas Verklärendes – nicht nur im Südwesten. Alles schien wohlgeordnet, auch die theoretisch erprobten Alternativen zum bestehenden Werte- und Wirtschaftssystem standen eher im Zeichen des Strickpullovers als der Jakobinermütze. An den Universitäten stellte man mit enormer Ausdauer die Frage nach den Grenzen des Wohlstands, diskutierte über Niklas Luhmans funktional-strukturelle Systemtheorie und wurde dann doch Lehrer, Rechtsanwalt und Beamter. Anderswo gebar die Dekade eine exaltierte Kunst- und Kulturszene, in der Pop theatralisch inszeniert wurde und die Welt der Gangster in der Kultserie „Miami Vice“ mit schnellen Bildfolgen und bonbonfarbener Beleuchtung in die Wohnzimmer flimmerte. Die Armani-Sakkos mit aufgekrempelten Ärmeln und die Ferraris als Dienstwagen taten ein Übriges. In Baden-Württemberg wurden derweil andere Dienstwagen produziert. Der erfolgreichste war der Mittelklasse-Daimler mit der internen Bezeichnung W 124. Im Vergleich zu einem italienischen Sportwagen wirkte er wie die aufgeschlagene Registratur eines Katasteramts. Die Modelle hießen 200 oder 200 D und gingen irgendwann hoch bis zum 500 E, aber der war schon wieder ein Exot. In einschlägigen Foren überbieten sich die Besitzer eines W 124 bis heute mit den Laufleistungen ihres Wagens – 600 000 Kilometer oder gar mehr als eine Million sind nicht selten. Die Dieselmodelle glühten lange vor und begleiteten ihre Besitzer dann zuverlässig bis ins Grab. Anlass zur Kritik gab allenfalls die Tatsache dass bei einigen Modellen die Fensterkurbeln bei geschlossenen Seitenscheiben nicht in die gleiche Richtung zeigten. Menschen, die den W 124 zusammenbauten, verließen morgens um sechs Uhr ihr Reihenhaus am Stadtrand von Stuttgart, streiften sich in Sindelfingen den Blaumann über und ließen bei der Montage nicht die kleinste Unsauberkeit durchgehen. So hätte es ewig weitergehen können. Doch dann tauchten am Horizont die Zeichen der großen Umbrüche auf. Der Osten kollabierte, die Mauer fiel, Systeme zerbrachen, Gewissheiten auch. Der W 124 aber blieb. Wer heute in Albanien, Beirut oder Amman ein Taxi besteigt, sieht oft den Stern am Lenkrad und kann kurz die Fensterkurbel streicheln.