Steffen Cornehl reist regelmäßig nach Sankt Petersburg, um die Uhren im Zarenpalast Peterhof – dem „russischen Versailles“ – wieder zum Laufen zu bringen. Der 39-Jährige leistet das ehrenamtlich gegen Kost, Logis und Kulturprogramm.

Stuttgart/St. Petersburg - Wie der Zufall so spielt. Ein deutscher Uhrmacher reist Ende der neunziger Jahre als neugieriger Tourist ins russische St. Petersburg, um den legendären Peterhof zu besuchen, das „russische Versailles“. Als der Kenner dort die umfangreiche und exquisite Uhrensammlung sieht, fragt er irritiert nach: „Warum stehen alle Werke still, weshalb gehen sie nicht?“ Die simple Antwort der Museumsleute: „Wir haben hier niemanden, der sie reparieren kann.“ Da hat der Fachmann eine Idee: Rasch trommelt er renommierte Kollegen zusammen, die in einer Fachgruppe organisiert sind. Seitdem reisen die Uhrenprofis ein- bis zweimal im Jahr nach St. Petersburg, um das lange unmöglich Erschienene mit Sachkunde und einem langen Atem möglich zu machen.

 

Steffen Cornehl, 39, aus dem Stuttgarter Osten, ist einer von ihnen. Er sagt: „Ich bin seit 2002 dabei. In diesen Jahren haben wir in mühevoller Kleinarbeit rund 200 alte Uhren wieder in Gang gesetzt. Man kann sie in der ständigen Ausstellung des Schlosses besichtigen.“ So zufällig wie die Geschichte mit dem Kontakt zum Schloss Peterhof, so geprägt von Zufällen ist der Weg von Steffen Cornehl, ehe er dem Charme und den Geheimnissen der alten Uhren erlag. Er stammt aus einem Dorf mit zweihundert Einwohnern in Mecklenburg-Vorpommern, wo seine Eltern zu DDR-Zeiten eine private Bäckerei und Konditorei besaßen. Natürlich hätte es sein Vater gerne gesehen, wenn der Sohn in diese handwerklichen Fußstapfen getreten wäre. Aber erstens boten dem Jungen die Jahre nach der Wende ungeahnte Möglichkeiten. „Außerdem“, so gesteht Steffen Cornehl, „wollte ich zwar wie mein Vater einen Handwerksberuf ergreifen, aber nicht am Wochenende arbeiten.“ Dass er das jetzt, als vielbeschäftigter Uhrmacher, doch oft tun muss, ist wohl Schicksal.

Zunächst jedoch wird aus Steffen Cornehl in Lüneburg ein Einzelhandelskaufmann. Die drei Jahre Lehrzeit absolviert er bei einem Juwelier, wo er den entscheidenden Impuls erfährt: „Als ich die Jungs in der Werkstatt sitzen sah, wie sie die Uhren reparierten, da hab ich gedacht, das macht denen Spaß, das probierst du auch.“ Später, auf der Uhrmacherschule in Hamburg, zeigt sich bei ihm das nötige Talent für die filigrane Arbeit: „Für meinen Beruf braucht es ein technisches Verständnis, und es braucht das, was man ein Händchen nennt.“

Erfahrung und Gespür

Sieht sich Cornehl, der schon als Azubi einen Förderpreis der Handwerkskammer bekam und 2001 seine Meisterprüfung mit Auszeichnung bestand, als Künstler, Kunsthandwerker, Handwerker? Er stutzt einen Augenblick: „Als Künstler nicht gerade, aber etwas Künstlerisches ist in unserer Arbeit schon dabei.“ Im Umgang mit den alten Uhren aus dem 18. und 19. Jahrhundert zähle in erster Linie die Erfahrung, dann das Gespür für die Uhrmacherkunst jener Epochen. Und schließlich die Intuition, wie man die Schätze wieder zum Laufen bringen könnte. Aber nein, eine Seele hätten die alten Uhren denn doch nicht.

Zu diesem schier unendlichen Spezialgebiet sei er gestoßen, weil er das Besondere gesucht habe, sagt Cornehl. Tagein, tagaus die normalen Uhren der Leute zu reparieren, das habe ihn nicht gereizt. Außerdem zeige sich im Zeitalter der Handys, Tablets und Smartphones, dass die Nachfrage nach der Reparatur etwa von Armbanduhren deutlich zurückgehe.

Nun also St. Petersburg, wo Steffen Cornehl gerade in diesen Julitagen wieder arbeitet. Gleich in den ersten Jahren, nachdem die Kontakte dorthin geknüpft waren, sind Cornehl und seine Kollegen mit vier Gruppen zu jeweils zehn Uhrmachern dort gewesen – jeden Sommer zwei Wochen lang. Und wie lauten die viel zitierten Rahmenbedingungen? „Wir machen das im Prinzip ehrenamtlich. Das heißt, wir bezahlen unsere Flüge selbst, bekommen in einem alten Palais im Park von Schloss Peterhof ein bescheidenes Quartier und sehr gutes Essen“, sagt Cornehl. Außerdem gebe es neben Kost und Logis für die Gäste aus Deutschland ein umfangreiches Kulturprogramm – Konzerte, Theater und Ballett. Aber die Arbeit an den Raritäten aus der Zarenzeit stehe natürlich im Vordergrund, betont er.

In einem der vielen Palais des riesigen Parks haben sich die deutschen Spezialisten ihre Werkstatt eingerichtet: „Dort hat jeder sein eigenes Werkzeug deponiert, denn die historischen Uhren dürfen ja nicht ausgeführt werden. Wenn es notwendig ist, bringen wir Ersatzteile aus dem Westen mit. Alles ist Handarbeit, viele Teile müssen wir aufwendig und manchmal auch trickreich selbst anfertigen, weil es sie nirgends mehr gibt.“

Der Palast am Finnischen Meerbusen

Welche der seltenen Uhren repariert werden, entscheiden die Profis. Den Umfang der Uhrensammlung aus der Zarenzeit vermag Cornehl kaum zu schätzen – vage Quellen sprechen von mindestens 350 Exemplaren. Jedenfalls geht ihm und seinen Kollegen die Arbeit auf Jahre nicht aus. Im Magazin des Museums lagere noch so einiges. Alle Werke, die sie wieder repariert haben, darunter vielerlei Kuriositäten, können die Besucher sehen. Hunderttausende kommen Jahr für Jahr auf Schloss Peterhof, dreißig Kilometer vor St. Petersburg. Es ist eines der Zentren des Tourismus in Russland, direkt am Finnischen Meerbusen gelegen. Zar Peter I. ließ es von 1714 an erbauen. 1723 wurde es eingeweiht. Seine Nachfolger und Erben machten daraus eines der größten und schönsten Barockensembles der Welt und einen zentralen Ort der russischen Geschichte. Berühmt sind die riesigen Wasserspiele. Seit 1990 zählt die rund 200 Hektar große Anlage zum Weltkulturerbe.

Über den Wert der dortigen Preziosen, die aus ganz Europa stammen, macht sich der Meister aus Stuttgart keine Gedanken: „Natürlich geht der Wert der Sammlung in die Millionen. Aber das spielt keine Rolle, denn es wird ja nichts verkauft.“ Selbstverständlich steige der Wert der großen und kleinen Schätze, von der historischen Taschenuhr bis zur massiven Standuhr, wenn sie wieder die Zeit anzeigen. Und natürlich wachse – zumindest in Kennerkreisen – die Bekanntheit derer, die sie neu zu ihrem technischen Leben erweckt haben. Die Namen derjenigen, die zum „Fachkreis Historische Uhren“ zählen, einem eingetragenen Verein, besitzen einen guten Klang. Einige von ihnen arbeiten für den Maharadscha von Jodhpur in Indien. Neulich war Cornehl in Moskau, wo ein Museum an seiner Arbeit interessiert ist. Auch in Deutschland gibt es Sammler, die die Sachkunde der Experten schätzen.

Stichwort Beutekunst: „Damit habe ich mich noch nicht beschäftigt, aber ich halte es schon für möglich, dass unter den Stücken auch Beutekunst ist“, sagt Steffen Cornehl. Ihm persönlich gehe es jedoch nicht um politische oder geschichtliche Aspekte: „Wir Uhrmacher aus dem Westen wissen selbstverständlich, dass die deutsche Wehrmacht das Schloss Peterhof besetzt und nicht gelöscht hat, als ein Feuer ausbrach. Es mag ältere Kollegen unter uns geben, die in ihrer Arbeit dort einen Beitrag zur Wiedergutmachung sehen.“ Er selbst, der jüngste unter all den Restauratoren, hege solche Gefühle allerdings nicht: „Ich stehe zu dieser ehrenamtlichen Arbeit, sehe sie aber für mich persönlich als eine praktische Chance zur Weiterbildung, denn diese Erfahrungen, die ich auf Schloss Peterhof sammle, kann ich für meinen Beruf sehr gut gebrauchen.“

Seit 1998 lebt und arbeitet Cornehl im Stuttgarter Osten, wohin es ihn nach Zwischenstationen in Reutlingen und dem Studium des Maschinenbaus und der Betriebswirtschaft in Esslingen verschlagen hat. An der Rossbergstraße führt er seine eigene Werkstatt. Für die Zukunft hat er präzise Pläne: „Die historischen Uhren bleiben ein Schwerpunkt meiner Arbeit. Aber ich habe die feste Absicht, eine eigene, exklusive Uhrenserie zu entwerfen.“ Klar, dass er die sportive Armbanduhr, die er trägt, selbst gebaut hat.