Rüdiger Faller ist von Otto Dix besessen. Das Bestreben, seinem Idol nachzueifern, brachte ihn ins Gefängnis. Seit seiner Entlassung vor 25 Jahren kämpft er darum, als eigenständiger Künstler wahrgenommen zu werden – mit mäßigem Erfolg.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Öhningen - Das hellblaue Hemd trägt er bis zum Bauch aufgeknöpft, dazu eine mit Ölfarbe bekleckste Bundfaltenhose und schwarz-weiße Cowboystiefel. Rüdiger Faller raucht gerne Zigarren, allerdings reicht es nicht mehr für Havannas, sondern nur noch für „Handelsgold Tropenschatz“, das Stück zu 55 Cent. Der süßliche Tabakgeruch vermischt sich in seinem Atelier mit dem Aroma feuchter Wände und staubiger Möbel. Faller lebt hauptsächlich von seiner kleinen Rente, die er sich vor bald fünf Jahrzehnten als Dekorateur erarbeitet hat. Hinzu kommt das Pflegegeld für seine psychisch kranke Frau. Ab und zu verkauft er ein Bild. Wenn es trotzdem eng wird, schiebt ihm sein Sohn, der als Landvermesser in Rottweil schafft, auch mal einen Hunderter zu. Wie geht’s, Herr Faller? „Ich bin in diesem Monat 73 geworden, fühle mich wie 30 und könnte noch Kinder zeugen“, antwortet er.

 

Rüdiger Fallers wegweisendes Erlebnis liegt weit zurück: Als 16-jähriger Gymnasiast besucht er in den Sommerferien 1958 eine Kunstausstellung. Er verguckt sich in ein Ölgemälde, das einen dicken Mann mit kurzen Hosen und einer Arbeitskappe zeigt, daneben ist eine Gestalt zu sehen, die an einem Kreuz hängt. Das Bild hat einen blaugrauen Farbklang, der durch scharlachrote Töne durchbrochen wird. Sein Schöpfer heißt Otto Dix. Drei Jahre später wird Rüdiger Faller erstmals eines seiner eigenen Werke mit „Dix“ signieren.

Kunstfälscher sind bezaubernde Gauner. Wolfgang Beltracchi ist, seit er seine Haftstrafe verbüßt hat, ein gern gesehener Talkshowgast. Bei „3 nach 9“ oder im „Nachtcafé“ darf er, der charmante Filou, erzählen, wie er Bilder im Stile von Max Pechstein, Max Ernst oder Heinrich Campendonk malte, die Experten, Sammler und Museumsleiter in aller Welt für echt hielten. Eine ähnliche Karriere hat Robert Driessen hinter sich: Er imitierte die Skulpturen des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti und brachte sie über Mittelsmänner an Vermögende. Am Mittwoch wurde Driessen vom Landgericht Stuttgart für diese Straftat zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Vielleicht nutzt er wie sein Branchenkollege Beltracchi die Zeit im Gefängnis, um einen Bestseller über das Kunstfälscherdasein zu verfassen.

Rüdiger Fallers Biografie erscheint mit einiger Verspätung. Erst jetzt, ein Vierteljahrhundert nach seiner Haftentlassung, erfährt die breite Masse, wie er vom Dix-Verehrer zum Dix-Nachahmer wurde.

Frühe Entwurzelung

Die Ich-Erzählung beginnt damit, dass die Kaufmannsfamilie Faller 1952 aus Tangerhütte bei Magdeburg ins Südbadische auswandert, um dem DDR-Sozialismus zu entkommen. Der Heranwachsende Rüdiger fühlt sich entwurzelt und bekämpft seine Einsamkeit mit Most: „Dabei erlebte ich, dass der Alkohol mir ein eigenartig beruhigendes Gefühl vermittelte und mir half, das Fremde in meiner Umgebung zu ertragen. So konnte ich auch die wehmütigen Gedanken an meine alte Heimat und die Spielkameraden in der Altmark vergessen.“

Das Singener Hegau-Gymnasium ist für Rüdiger ein Ort der Niederlagen. In seiner ersten Lateinprüfung wird sein sorgfältig ausgearbeiteter Spickzettel vom Lehrer entdeckt, „Ungenügend wegen Täuschungsversuch“ steht unter der Klausur. Ohne illegale Hilfsmittel ist der Fünftklässler auch in den meisten anderen Fächern verloren (Ausnahmen: Deutsch, bildende Kunst und Religion). Mit Beginn der Pubertät stellt Rüdiger das Lernen vollends ein, trinkt stattdessen Bier, baggert Mädchen an und macht sich als Mitglied der örtlichen „Totenkopfbande“ bei Schlägereien einen Namen. Auch mit erigierten Penissen, die zu Beginn einer Biologiestunde die große Klapptafel zieren, wird der Problemschüler Faller in Verbindung gebracht.

In der neunten Klasse verlässt Rüdiger das Gymnasium, um der drohenden Nichtversetzung, es wäre bereits die dritte, zuvorzukommen. Er beginnt eine Lehre als Dekorateur. Für ein passables Zeugnis der Gewerbeschule belohnen ihn seine Eltern mit einem Porsche – vermutlich eine kontraproduktive Erziehungsmaßnahme: Bescheidenheit gehört ohnehin nicht zu Rüdigers hervorstechenden Charaktereigenschaften, eher ein Hang zum Übermut. „Schon mit 18 lebte ich in einer ganz eigenen irrealen Welt, fernab von jedem Gesetz und Ordnung“, heißt es in der Biografie.

Schein einer bürgerlichen Existenz

Eine Zeit lang gelingt es ihm noch, den Schein einer bürgerlichen Existenz zu wahren. Nach der Lehre schafft Faller im Konstanzer Hertie, heiratet und wird Vater. In seiner Freizeit widmet er sich der Malerei.

1973 bietet der Markelfinger Kunstkreis dem begabten Autodidakten erstmals eine öffentliche Plattform für sein Schaffen. Der „Südkurier“ lobt: „Starke Akzente setzt Rüdiger Faller mit seinen großen Landschaftsaquarellen: ins Monumentale vereinfacht und gesteigert.“ Es folgt eine Einzelausstellung in einer Singener Galerie, Faller verdient mit seinem Hobby plötzlich Geld. Er will nicht mehr Dekorateur sein, sondern Künstler.

Faller kündigt die Festanstellung im Kaufhaus und übernimmt einen Tabakladen. Die Ablösesumme für das Geschäft spendieren seine Eltern – sie sind froh, dass ihr mittlerweile 31-jähriges Sorgenkind nun offenbar eine Perspektive hat. Doch seine Einnahmen als Einzelhändler und Kunstmaler decken bei Weitem nicht seine Ausgaben als Lebemann: Faller raucht kubanische Zigarren, fährt amerikanische Sportwagen und vergnügt sich mit Hegauer Freudenmädchen. Seine Frau lässt sich scheiden, kurz darauf stirbt seine Mutter. Faller stürzt ab. Ihm ist jetzt alles egal.

Eine folgenreiche Geschäftsbeziehung

Der Kriminalfall mit dem Aktenzeichen 44 Js 4/6/86 beginnt an einem Singener Bartresen. Bei einigen Pils und dem ein oder anderen Friesengeist, einem 65-prozentigen Schnaps, kommt der von chronischen Geldsorgen geplagte Künstler Rüdiger Faller mit dem Galeristen Wolfgang D. ins Gespräch. An diesem berauschenden Sommerabend des Jahres 1985 beschließen die beiden Männer, eine intensive Geschäftsbeziehung einzugehen.

Laut der Urteilsbegründung des Landgerichts Konstanz vom 11. November 1987 funktioniert diese Partnerschaft folgendermaßen: Rüdiger Faller produziert mehrere Dutzend Bilder im Stile von Otto Dix, datiert sie und versieht sie mit dem Signet des prominenten Vertreters der Neuen Sachlichkeit. Pro Gemälde erhält er zwischen 1000 und 1200 Mark von Wolfgang D., der die Werke als Dix-Originale zu fünfstelligen Preisen weiterverkauft.

Die Fälschungen sind so gut, dass sie der renommierte Dresdner Kunstprofessor Fritz Löffler in einer Expertise als „Meisterzeichnungen von Otto Dix“ bezeichnet. Der Schwindel fliegt erst auf, als Faller versucht, „Ölbilder und Aquarelle von Otto Dix“ selbst zu verscherbeln. Auf sein Inserat in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ meldet sich ein zahlungskräftiger Kunstsammler, der sich kurz darauf als Mitarbeiter des Landeskriminalamts entpuppt. Die Falle schnappt zu.

Rüdiger Faller wird wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren ohne Bewährung verknackt. Sein Rechtsanwalt legt Revision ein, und Faller kommt bis zum endgültigen Urteil auf freien Fuß. Er nutzt die günstige Gelegenheit, um zum zweiten Mal zu heiraten, die Feier findet in einem China-Restaurant statt.

„Mädchen vor Hegaulandschaft“

Kurz nach der Trauung erhält Rüdiger Faller ein amtliches Schreiben: Die Revision sei verworfen worden, er möge sich unverzüglich in der Justizvollzugsanstalt Stammheim einfinden. Faller, der bereits mehr als ein Jahr in U-Haft saß und bei guter Führung nach acht Monaten entlassen würde, fährt jedoch nicht in den Strafvollzug nach Stuttgart, sondern in die Flitterwochen nach Sipplingen.

Als er aus dem Vier-Sterne-Seehotel Adler mit seiner neuen Frau und seiner Tochter aus erster Ehe in die Singener Wohnung zurückkehrt, erwartet ihn bereits die Polizei. In Handschellen schafft man Faller ins Krankenhausgefängnis auf den Hohenasperg, laut psychiatrischem Gutachten gilt er als suizidgefährdet. Einen Monat später wird er, seelisch leidlich stabilisiert, in die JVA Ulm verlegt. Bis zu seiner Entlassung im Frühjahr 1990 malt Faller in seiner Zelle zahllose Aquarelle, sie tragen Titel wie „Segelboot auf dem See“ oder „Mädchen vor Hegaulandschaft“.

Nach der Haft zieht Faller an seinen geliebten Bodensee und macht sich sofort wieder an Staffelei und Leinwand zu schaffen. Fernsehteams schauen bei ihm vorbei, man stellt ihn in eine Reihe mit Edgar Mrugalla und Konrad Kujau, den ganz Großen der deutschen Fälscherzunft. Doch schon bald lässt das Medieninteresse nach, und Rüdiger Faller ist nur noch einer von zig mehr oder weniger talentierten Kunstmalern, die auf der Bodenseehalbinsel Höri ums wirtschaftliche Überleben kämpfen.

Dix als Nachbar

Sein winziges Atelier am Öhninger Klosterplatz liegt nur zwei Kilometer von jenem Haus entfernt, in dem Otto Dix von 1936 bis 1969 lebte und arbeitete. Dessen Sohn Jan wohnt sogar nur einen Steinwurf von Faller entfernt in einem liebevoll renovierten Bauernhaus. Der 86-jährige Goldschmied Jan Dix und seine Frau Andrea sind nicht gut auf ihren Nachbarn zu sprechen. Faller versuche nach wie vor, von dem prominenten Namen Dix „etwas abzuschöpfen“, seine Bilder seien „stümperhaft“, und er sei „unfähig, einen eigenen künstlerischen Kosmos zu erschaffen“. An der Hegauer Museumsnacht im September darf Rüdiger Faller nicht teilnehmen, weil ihn das Ehepaar Dix nicht dabeihaben will: „Entweder er oder wir!“ Dem Veranstalter fiel die Entscheidung offenbar nicht schwer.

Faller ist selten flüssig. Seinen kostbarsten Besitz – ein Mercedes-Coupé, Baujahr 1992, amtliches Kennzeichen KN-DX 16 – hat er für vier seiner Bilder von einem gefälligen Galeristen bekommen. Eigentlich ist er auf jeden Euro angewiesen, doch wenn sich Kunden in sein Atelier verirren, können sie trotzdem nicht sicher sein, dass er ihnen eines seiner Werke verkauft: Wen er als Spießer identifiziert, geht leer aus. Faller ist eben keiner, der seine Prinzipien für ein paar Scheine sausen lässt. Meistens hockt er hinter seinem Schreibtisch, liest Nietzsche oder Goethe. Seinen Freunden hält er gerne Vorträge über Hinduismus („Ich bin Brahmane“), Amerikanismus („Hat unsere Zivilisation versaut“) oder den Kunstmarkt („Vollkommen verrottet“).

Dix-Kopien, sagt Faller, könne man bei ihm nicht bestellen, höchstens „Motive nach Otto Dix“. Freilich bringen ihm auch diese freien Interpretationen bisweilen Ärger mit der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst ein: Die Bonner Wächter des Urheberrechts erkennen in seinen Bildern berühmte Originalwerke und wollen ihn dafür zur Kasse bitten. „Das ist lächerlich!“, schimpft er und verweist auf seinen „eigenen Zeichen-, Mal- und Farbenduktus“.

Die letzte Chance

88 von Rüdiger Faller geschaffene Fälschungen wurden Ende der 80er Jahre sichergestellt, seither tauchen immer mal wieder Faller’sche Dix-Imitate auf. Wie viele noch im Umlauf sind, weiß niemand, auch nicht Faller selbst. Selten war er in jener trostlosen Zeit nüchtern, manche Bilder hat er aus einer Schnapslaune heraus verschenkt. Am liebsten würde er über die alten Sünden gar nicht mehr reden. „Ich will ein eigenes Werk schaffen und nicht als Fälscher reüssieren“, sagt er.

Von Mitte September an präsentiert der 73-Jährige in einer Stuttgarter Galerie seine Bilder. Es ist für ihn vielleicht die letzte Gelegenheit, genügend zu verdienen, um sich seinen großen Traum zu erfüllen: Rüdiger Faller möchte auf die Südseeinsel Hiva Oa reisen, um das Grab von Paul Gauguin zu besuchen, seinem zweiten Idol neben Otto Dix. Die Ausdrucksformen der beiden Kunstgenies hat der Lebenskünstler kürzlich zu einem echten Faller verschmolzen: Auf dem Ölgemälde sitzt ein Tahiti-Mädchen anmutig in der Bodenseelandschaft.