Es ist ein tiefes Tal, in dem sich die große Stuttgarter Sturmhoffnung Timo Werner seit Längerem befindet. Nun wird gerätselt, woran das liegt. Womöglich an fehlender Selbstständigkeit?

Stuttgart - An der Seitenlinie des Hamburger Volksparkstadions stand Timo Werner und dehnte sich die Muskeln – seine Einwechslung stand unmittelbar bevor. Der VfB führte in Unterzahl mit 2:1, der schnelle Stürmer sollte für ein wenig Entlastung sorgen, denn der HSV drängte immer stärker. Genau in jenem Moment jedoch fiel der Ausgleich – und animierte das Hamburger Publikum, sein Team noch lauter nach vorne zu brüllen. Es gibt für einen 19-Jährigen angenehmere Situationen, in eine laufende Partie zu kommen.

 

Der VfB-Trainer Alexander Zorniger hielt dennoch an der Einwechslung fest – und musste hinterher enttäuscht feststellen, dass der Plan nicht aufgegangen war. Wie der ebenfalls eingewechselte Carlos Gruezo trug auch Werner zu den immer größer werdenden Defensivproblemen bei, die am Ende zur 2:3-Niederlage führten. Sichtbar verärgert war Zorniger über die Leistung seiner Reservisten – genau wie in der Vorwoche, als Werner beim 1:3 gegen Köln vor dem letzten Treffer nicht energisch genug eingegriffen hatte. Es macht seine Saisonauftaktbilanz nicht besser, dass er beim Pokalerfolg in Kiel immerhin in der Startelf stand. Gegen den Drittligisten gewann Werner keinen Zweikampf.

Das vergangene Jahr war für Werner ein eher verlorenes

Es ist ein tiefes Tal, in dem sich die große Stuttgarter Sturmhoffnung nicht erst seit Beginn dieser Runde befindet. Schon die vergangene Saison war für ihn persönlich ein eher verlorenes Jahr. Wenn man Werner derzeit spielen sieht, dann fällt es schwer, sich daran zu erinnern, wie kometenhaft als 17-Jähriger sein Aufstieg zum Bundesligaspieler war. Und dann fragt man sich: was läuft bloß falsch bei Timo Werner, der damals deutschlandweit als neuer Wunderstürmer gefeiert wurde?

Es gibt einige mildernde Umstände, die Werner für sich geltend machen darf. Er ist auch mit 19 noch in einem Alter, in dem niemand erwarten darf, dass es immer nur aufwärts geht. Zudem erschwert es die Entwicklung eines Jungprofis, wenn er einem Verein angehört, der den permanenten Turbulenzen des Abstiegskampfes ausgesetzt ist. Werner hat schon fünf Trainerwechsel erlebt und ebenso viele Systemänderungen, auf die er sich einstellen musste.

An der Berufseinstellung liegt es nicht

Der Verein hat immer viel Verständnis für Werners Probleme gehabt. Inzwischen aber rätseln sie beim VfB zunehmend, warum das Sturmjuwel nicht mehr funkelt. An der Berufseinstellung kann es nicht liegen – Werner ist ein bodenständiger und ehrgeiziger Profi, von dem niemand befürchten muss, dass er den frühen Ruhm nicht verkraftet. Auch am Talent und Potenzial zweifelt keiner – sonst gäbe es nicht regelmäßige Anfragen aus dem In- und Ausland, wo Werner aufgrund seiner Schnelligkeit und seines Torinstinkts nach wie vor ein begehrter Spieler ist.

Also landet man bei der Suche nach anderen Erklärungen an einem Ort, dem Werner und der VfB viel zu verdanken haben: seinem wohlbehüteten Elternhaus in Stuttgart-Münster. Es hat ihm geholfen, ein gewissenhafter Profi mit besten Umgangsformen zu werden; es hat dazu beigetragen, dass Werner vergangenes Jahr bis 2018 verlängerte, auch auf die Gefahr hin, in der zweiten Liga zu spielen. Inzwischen aber gilt das Elternhaus als ein Grund für die stagnierende Entwicklung.

Sein Vater begleitet ihn auf Schritt und Tritt

Er wohnt noch immer in seinem Kinderzimmer und wird von seinem Vater Günter Schuh, einem ehemaligen Amateurspieler und -trainer, auf Schritt und Tritt begleitet. Keine Trainingseinheit und kein sonstiger Termin, bei dem der 74-Jährige nicht dabei wäre; und vermutlich auch kein Frühstück, kein Mittagessen und kein Abendbrot, bei dem der Sohn auf väterliche Ratschläge verzichten müsste.

Das ist alles bestimmt sehr gut gemeint – muss aber nicht immer hilfreich sein. Nicht nur für Fußballspieler gilt: Es trägt zur Persönlichkeitsbildung bei und fördert die Entwicklung eines jungen Menschen ganz entscheidend, wenn man auf eigenen Beinen steht und eigene Entscheidungen trifft. Erwachsen wird man meist erst dann.

Vor ein paar Wochen soll Tottenham Hotspur einen zweistelligen Millionenbetrag für Timo Werner geboten haben. Einen Vereinswechsel lehnte der VfB ab – und würde sich vermutlich trotzdem wünschen, dass das Eigengewächs in naher Zukunft seine Koffer packt.