Nach dem Zweiten Weltkrieg entwarfen die Planer und die Politik ein neues Stuttgart – das alte Bauen war ihnen verpönt.

Stuttgart - Das schmale Bändchen ist heute eine bibliophile Rarität. Es besteht aus kaum mehr als sechzig Seiten, trägt den Titel "Stuttgart im Aufbau" und ist, man höre und staune, 1945 im Verlag von Konrad Wittwer erschienen. Abgedruckt ist "Eine Rede und eine Idee zum Aufbau unserer Stadt", gehalten von Eugen Mertz, dem damals ehrenamtlich tätigen, ersten Referenten für Stadtplanung und Wiederaufbau. Tagsüber half Mertz, Architekt und Kinobesitzer an der Bolzstraße, "mit der Hand am Arm" beim Trümmerräumen, abends machte er sich Gedanken darüber, was aus seiner zerstörten Heimatstadt werden sollte.

Die Visionen des kleinen Mannes mit dem großen Hut und den Knickerbockern nötigen beim Lesen einigen Respekt ab, denn Eugen Mertz forderte - angesichts einer völlig zerstörten Stadt, angesichts traumatisierter Menschen in Hungers- und Wohnungsnot - schon ein zentrales Regierungsviertel, unterirdische Stadtbahnen und eine Ringstraße, um den Stadtkern besser zu erschließen. Damit war er seiner Zeit weit voraus.

Das Wahrzeichen der Stadt, die Stiftskirche, so forderte Mertz, müsse wieder aufgebaut, das Neue Schloss zu einem noblen Kurhotel umgebaut werden. Überhaupt, davon war er fest überzeugt, würde Stuttgart nur als Kur- und Bäderstadt eine große Zukunft haben; Handel und Wandel, Kultur und Gewerbe, Touristen und Einheimische - alles neue Wohlergehen hinge einzig und allein von der Nutzung des Mineralwassers ab, das ja hier so reichlich fließe. "Unsere Stadt ist trotz der Zerstörung so schön wie eh und je", schwärmte Mertz. Den Aufbau des neuen Stuttgart sah er als "Wiedergeburt". Wo nahm dieser Mann eine solche Zuversicht her?

1953 meldete Stuttgart "Wir sind trümmerfrei!"


Heute, 65 Jahre später, mögen die Mertz'schen Ideen und Ideale manchem naiv erscheinen. Doch aus der ersten Grundsatzrede, die es zum Städtebau in Stuttgart nach der Katastrophe des Krieges und des Dritten Reiches gab, lässt sich das zentrale Motiv schon klar erkennen: Obwohl er selbst der "Referent für den Wiederaufbau" war, sprach Eugen Mertz bewusst vom "Aufbau" - er hätte auch Neuaufbau sagen können. Nicht die originalgetreue Rekonstruktion der bei 54 Luftangriffen in Schutt und Asche gesunkenen alten Residenz war sein Ziel, sondern der Aufbruch in eine neue Zeit, nach innen wie nach außen, politisch und städtebaulich. Hitlers Größenwahn von Stuttgart als der Stadt der Auslandsdeutschen mit einem gigantischen Gauforum über der Karlshöhe verschwand schnell und mit Abscheu in den Archiven, nichts sollte spätere Generationen an den menschenverachtenden Faschismus erinnern, nichts an seine Maßlosigkeit, auch im Planen und Bauen.

Was man aus heutiger Sicht als schweren Fehler, ja als unverzeihliche Sünde der Nachkriegsplaner geißelt, geschah damals, in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren, sehr wohl mit Bedacht: Das alte neugotische Rathaus beispielsweise war nur teilweise zerstört, mit Hilfe der Baupläne hätte man es leicht rekonstruieren können. Aber auf diese Idee kam keiner, vielmehr erhielten die Architekten Paul Schmohl und Paul Stohrer den Auftrag, das kommunalpolitische Zentrum der Stadt strikt nüchtern neu zu planen - quadratisch, praktisch und damit gut. Der Marktplatz sollte frei bleiben vom vermeintlich völkischen Zierrat. Dabei hatten die zerstörten Häuser rein gar nichts mit der Naziarchitektur zu tun gehabt - aber die Nazis hatten 1933 von all dem Besitz ergriffen, ihre Hakenkreuzfahnen daran gehisst und das Volk nach Strich und Faden belogen.