Der Botnanger Künstler Gerhard Kühn ist seit 30 Jahren Abonnent der Stuttgarter Zeitung. Noch nicht ganz so lange macht er Collagen aus den Druckbuchstaben.

Stuttgart - Gerhard Kühn nimmt die Stuttgarter Zeitung von gestern auseinander. Erst grob, dann fein. Kleingedrucktes lässt er unter den Tisch fallen. Sein Interesse gilt vor allem den Großbuchstaben und den Überschriften. Jede Lektüre ist für ihn ein einschneidendes Erlebnis. Der 80-jährige Künstler sammelt Buchstaben und Worte. Ein bisschen wie die Maus Frederick aus dem berühmten Kinderbuch von Leo Lionni. Während die anderen Mäuse Vorräte von Körnern, Nüssen, Weizen und Stroh anlegen, sammelt Frederick stattdessen Farben und Wörter für die kalten und grauen Wintertage. Der Beginn der Rente war für Gerhard Kühn der Beginn seiner Buchstabenkunst.

 

Jeden Morgen steckt ihm seine Frau einen Apfel in die Tasche, dann macht sich Kühn zu Fuß auf den Weg. Eine Viertelstunde von seiner Wohnung entfernt, vorbei an der Apotheke und am Einkaufszentrum, liegt sein Atelier in einem Botnanger Hinterhof. „Atelier Kühn“ steht auf dem Schild vor der Außentreppe, die hinunter in die Kellerräume führt. Ein altmodisches Klingelgeräusch. Die Tür öffnet sich. „Willkommen in meiner kleinen Welt!“, sagt der akkurate Mann mit gepflegtem Dreitagebart, Pilotenbrille. Er wirkt jünger, als er ist. Nur seine Stimme hat etwas Brüchiges.

In der Mitte des Arbeitsraums steht ein großer Tisch. Seine Oberfläche ist unter eingetrockneten Farbklecksen kaum noch zu erkennen. Auf dem Fensterbrett stehen Gläser mit Pinseln in allen Formen und Größen, darunter hängen Lineale, Winkel und Schablonen, im Regal daneben eine Reihe von Farbtuben. Gerhard Kühn ist jeden Tag hier, fünf bis acht Stunden. „Ich habe einen Vollzeitjob, obwohl ich Rentner bin“, sagt er, „aber manchmal, wenn das Wetter schön ist, gehe ich lieber mit meiner Frau spazieren.“ Das Licht ist schummrig. Es riecht nach Farbe und Klebstoff. In der Ecke bollert ein Ofen. An den Wänden lehnen quadratische Leinwände, 80 auf 80, 100 auf 100 Zentimeter, fertige Bilder, darüber Regale mit Papier und Pappe. Der Raum ist beides: Werkstatt und Archiv.

Geboren in Lettland, aufgewachsen in Polen

Seit 30 Jahren ist Kühn Abonnent der Stuttgarter Zeitung. Noch nicht ganz so lange ist die Zeitung für ihn auch Arbeitsmaterial. „Als ich vor 17 Jahren in den Ruhestand ging, dachte ich, ich mache irgendwas mit Buchstaben“, sagt er. Seine Liebe zu Wörtern und Zahlen kommt aus seinem Beruf. Für Firmen wie Kodak und Fielmann arbeitete Kühn als freier Werbegestalter. „Folienbuchstaben kleben, Preisschilder schreiben, in Fenstern und auf Messen. Das war meine Haupttätigkeit. Es war eine schöne, stressige Zeit.“

Geboren 1935 in Lettland, verbrachte Gerhard Kühn seine ersten Jahre in Polen. Später ging er in Pritzwalk in der ehemaligen DDR zur Schule. 1955 flüchtete er in den Westen, studierte Gebrauchsgrafik in Darmstadt. Darauf folgten dann „Wanderjahre“ in Werbeabteilungen von Industrie- und Handelsunternehmen.

Vielleicht sind die Stationen seines Lebens ein guter Schlüssel für Gerhard Kühns Kunstrichtung: die Collage. Er setzt sich darin (unbewusst) auch mit Grenzen auseinander. Mit dem Ausschneiden löst er die Wörter und Buchstaben aus ihrem alten Zusammenhang und bringt sie auf der ästhetischen Ebene in eine neue Ordnung. Es geht ihm darum, konkrete Themen zu veranschaulichen, aber auch um ein Innehalten und Staunen über seltsame Wörter. „Ich möchte, dass sich die Worte dem Betrachter einprägen“, sagt er. Den Titeln aus der Zeitung von gestern verhilft er dadurch zu neuem Glanz und Dauer. Kühns thematisches Repertoire reicht von Tomatensoße über Fußball, die Stuttgarter Kommunalpolitik bis hin zu Barack Obama. „Mir schwebt etwas vor, und wenn ein Wort dazu passt, dann kommt es in den Umschlag.“

Mit Wörtern gefüllte Wundertüten

Vor ihm auf dem Tisch reihen sich in einer Schuhschachtel längliche Briefumschläge, auf denen von Hand geschriebene Begriffe wie „Kapital“, „Gut“, „Böse“, „Energie“ und „Liebe“ stehen. Die Umschläge sind Wundertüten. Manche dick, manche dünn, je nachdem, wie viele Wörter sich darin befinden. „Das Wort Liebe ist ganz schön dick“, sagt Gerhard Kühn und öffnet den Umschlag mit den „guten“ Wörtern. Heraus fallen „Mittagsschlaf“, „Familienanschluss“, „Kündigungsschutz“, „Muttermilch“, „Geld“ – Geld? „Nein, das gehört hier eigentlich gar nicht hin! Für Geld habe ich einen extra Umschlag.“ Mit einem kleinen Messer klaubt er die Wortschnipsel auseinander. „Ich darf nichts durcheinanderbringen.“ Was hat es mit dem Umschlag „Spitzenpolitiker gereinigt“ auf sich? Kühn lacht. „Ich hab sie nicht gesäubert. Ich schneide erst grob aus, und dann schneide ich das Feine nach. Gereinigt nenne ich das dann.“

In der Collage „Die geteilte Stadt“ veranschaulicht Kühn die Stuttgart-21-Debatte am Beispiel eines geteilten Worts. Das großgeschriebene „Stuttgart“ aus dem Titel der Stuttgarter Zeitung war dafür sein Ausgangspunkt. Nicht ein Titelwort, Hunderte! Mit der Schere teilte er sie in „Stutt“ und „gart“. Als er genug Wortschnipsel hatte, klebte er „Stutt“ auf die eine und „gart“ auf die andere Seite des Bilds. Dazwischen malte er einen gelben Farbstrahl, setzte eine große, schwarze 21 aus Pappe auf den unteren Bildrand. Oben, wo die beiden Wortteile sich scheinbar wieder annähern, blinkt Gerhard Kühns Erkennungszeichen: ein kleines goldenes Quadrat. Am oberen Bildrand findet sich das einzige unversehrte Stuttgart in einem Wort.

Ein anderes Bild thematisiert humorvoll das Geschwätz, von dem wir täglich umgeben sind. Kühn hat dafür das „bla“ aus dem Stuttgarter Wochenblatt ausgeschnitten. „Die tt habe ich weggeschnitten. Geblieben ist das bla.“ In Blau gehalten, wirken die vielen ausgeschnittenen „blas“ wie Sprechblasen, die im Raum wabern. In der Mitte des Bildes blinkt Kühns goldenes Quadrat wie eine Aufforderung, doch mal bitte still zu sein. Ist dieses Kunstwerk eine Kritik am Geschwätz? „Nun ja, es gibt Stammtischgeschwätz, man sagt ja manchmal Blabla dazu. Geschwätz hat keinen großen Sinn und Zweck.“ Die Worte in den Zeitungen empfinde er dagegen nicht als Geschwätz. „Die Begriffe sind einfach da. Die Zeitungsschreiber müssen sie benutzen, um dem Leser das Thema klarzumachen. Das versuche ich in dem Moment, wenn ich die Wörter ausschneide, zu unterstreichen: die Wichtigkeit der Worte im Zusammenhang mit Themen“, sagt Gerhard Kühn.

Jahrelange Kleinarbeit

Unzählige S, T, U, G, A, E, R, Z und N lagern eng an eng in kleinen weißen Cremedosen und Pappschachteln. Sie sind das Ergebnis wochen-, monate- und jahrelanger Kleinarbeit. Beugt man sich über sie, wirkt es, als führten die losen Buchstaben ein geheimes Eigenleben. Hat Kühn einen Lieblingsbuchstaben? „Es gibt Buchstaben, die nichts hergeben, zum Beispiel das L – nur so ein Winkel. Auch mit dem I kann ich nichts anfangen. M und N mag ich sehr.“

Mehr als 2000 Bilder hat Gerhard Kühn in den vergangenen 17 Jahren gemalt. Er habe diese Zeit gebraucht, sich zu entwickeln, eine Form zu finden. Er hat immer wieder kleinere Ausstellungen gehabt, seine wichtigste in seiner Geburtsstadt Libau.

Wenn sich Gerhard Kühn etwas wünschen könnte, dann, „dass sich jemand findet, der sich um meine Bilder kümmert“. In der „Süddeutschen Zeitung“ hat er mal eine Anzeige geschaltet: „Künstler verkauft sein Lebenswerk.“ Gemeldet habe sich nur ein Künstlerkollege, der wissen wollte, ob er Erfolg mit der Anzeige gehabt habe. Seine Frau sage, das Nächste wäre eine Anzeige „Lebenswerk zu verschenken“. Gerhard Kühn würde dann alles aufgeben: die Räume, den Gesamtbestand der Bilder. Aber malen würde er weiterhin – „solange ich kann, bis zum letzten Schnaufer“.