Klassiker-Rap von bestechender Modernität: Hans-Ulrich Becker inszeniert in der Esslinger Landesbühne die Kleist-Komödie „Der zerbrochne Krug“.

Stuttgart - Wie der Herr, so’s Gescherr – und der Herr sieht mitgenommen aus an diesem Vormittag in Huisum, dem fiktiven Dorf bei Utrecht, in dem Kleists „Zerbrochner Krug“ spielt. Mit zerschrammtem Schädel, ausgeleierter Unterhose und starken Koordinationsproblemen stolpert Dorfrichter Adam durch die Gerichtsstube, die in der Esslinger Landesbühne mit Heuballen übersät ist und schon viele Fress- und Saufgelage erlebt hat. Dass zwischen Weinflaschen, Kleidungsfetzen und Strohbündeln nicht nur Orgien gefeiert werden, sondern auch Recht gesprochen wird, ist kaum vorstellbar: Huisum ist ein Sodom und Gomorrha und genauso heruntergekommen wie der Dorfrichter, der hier seines liederlichen Amtes waltet.

 

Die Heustallbühne von Frank Chamier gibt den Rahmen vor, den der Regisseur Hans-Ulrich Becker mit seinem famosen Ensemble und einem tollen Stück zwei Stunden lang füllt. Kleists „Zerbrochner Krug“ ist die beste, hintersinnigste, abgründigste Komödie der Deutschen – und von einem Wort- und Szenenwitz, dessen Feinheit, Derbheit und Zielgenauigkeit noch immer zünden.

Diesem großen Lachtheater bleibt Becker in seiner zum Schießen komischen, zum Weinen bitteren Inszenierung nichts schuldig. Wie Kleist setzt auch er alles auf eine Karte, auf Gottes Werk und Teufels Beitrag, der im „Zerbrochnen Krug“ mit Adams Sündenfall und, speziell in Esslingen, mit Prophezeiungen der US-Band Metallica beginnt. „There’s a Devil waiting outside your Door“, hört man bluesig aus dem Off, als der Richterstall noch im Morgendämmer liegt. Mit dem Teufel, der allerdings im eigenen Leib wohnt, bekommt es Adam tatsächlich zu tun: Der Richter hat eine turbulente Nacht hinter sich und einen turbulenten Tag vor sich. Herausfinden muss er, wer wenige Stunden zuvor Marthes Krug zerbrochen hat. Was harmlos beginnt, wächst sich gefährlich aus: Er selbst war es, der nach der Vergewaltigung von Eve, Marthes Tochter, Hals über Kopf türmte, dabei das Gefäß zertrümmerte und nun gegen sich selbst ermitteln muss.

Adam ist mächtig geil

Alle Vertuschungsversuche scheitern, denn just an diesem Höllentag ist aus Utrecht der Gerichtsrat Walter angereist, um nach dem Rechten zu sehen. Aber das, was am Ende ans Licht kommt, möchte auch er unter der Decke halten: dass die Obrigkeit unter falschem Vorwand junge Männer rekrutiert, um sie in den Kolonien zu verheizen. Davor wollte Eve ihren Verlobten Ruprecht schützen, deshalb lehnte sie die Avancen des mächtig geilen Adams nicht rundweg ab.

Kompliziert? Durchaus. Und weil jeder Dörfler angesichts des „zerscherbten Faktums“ des Krugs, der Jungfräulichkeit, der Ehre, der Wahrheit eigene Interessen verfolgt, gerät der Kasus auch in Esslingen in allerlustigste Verwirrung. Dafür sorgen präzises Timing, bestechende Charakterzeichnung und typengenaue Besetzung. Martin Theuer als Adam, der sich an seinen eigenen Lügen berauscht; Antonio Lallo als Schreiber Licht, der die Chance wittert, seinen sich heillos verstrickenden Vorgesetzten zu beerben; Marcus Michalski als Gerichtsrat Walter, der mit zwangsneurotischer Pedanterie den Saustall ausmisten will – und dazu Kristin Göpfert, Sofie Alice Miller, Dietmar Kwoka, Ursula Berlinghof und Markus Michalik als tumb-resolutes Bauernvolk, wobei vor allem der Letztgenannte zur Höchstform aufläuft. Michalik stattet seinen Ruprecht als Gangsta-Rapper vom Kartoffelacker aus, der Kleists verschlungene Verse in Hip-Hop-Manier vorträgt, vortanzt, vorturnt: der beste Klassik-Poser, den wir je gesehen haben!

Hans-Ulrich Becker, der in Esslingen schon Seethalers „Trafikanten“ zum Erfolg geführt hat, kostet Kleists Reichtum bis zum Letzten aus. Und dazu gehört auch die bestechende Modernität der Themen, die im „Krug“ stecken, von Adams „Fake-News“ bis zu Eves „Metoo“, von Kolonialismus und Ausbeutung bis hin zu Rechtsbeugung und Klassenjustiz. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn das Publikum neben der heiteren Komik nicht auch die explosive Brisanz des Stoffs zu schätzen wüsste: Der „Zerbrochne Krug“ ist ein weiteres Schmuckstück in der Esslinger Schatulle.

Aufführungen
am 18., 24. und 27. Oktober.