Deutsch-französische Freundschaft Pierre und Willi waren Austauschschüler – im Krieg sahen sie sich wieder

Der Stuttgarter Willi Lorenz brach 1933 zu einem Schüleraustausch nach Frankreich auf – daraus entwickelte sich eine lange Freundschaft. Foto: privat/Montage: Ruckaberle

1933 reist der 15-jährige Willi aus Stuttgart an die Seine. Und sein Austauschschüler Pierre kommt nach Nazi-Deutschland. Mitten im Zweiten Weltkrieg treffen sie sich wieder.

Freizeit und Unterhaltung: Theresa Schäfer (the)

An seiner grünen Schülermütze würden sie ihn erkennen. Willi Lorenz trägt die Kappe des Friedrich-Eugens-Gymnasiums, als er am 17. Juli 1933 am Pariser Gare de l’Est aus dem Zug steigt. Dort wird der 15-jährige Stuttgarter schon erwartet – von der Familie Selzer aus Thiais, die ihren deutschen Austauschschüler in Empfang nimmt. Kurz darauf kommt auch Pierre, der Sohn der Selzers, am Stuttgarter Hauptbahnhof an. Vater Lorenz bindet sich ein weißes Taschentuch an den Spazierstock, um den Jungen ja nicht zu verpassen.

 

Karl Lorenz, das geht aus dem ausführlichen Briefwechsel hervor, den die Familie über all die Jahrzehnte aufbewahrt hat, hatte den Frankreichaufenthalt seines Sohnes über den Deutsch-Französischen Schüleraustauschdienst organisiert. „Trotz der ungünstigen Zeit habe ich dennoch vor, Willi im Austauschverfahren auf einige Wochen nach Frankreich zu geben“, schreibt Lorenz einem Freund. Klar, was er damit meint: Wenige Monate zuvor, am 30. Januar 1933, war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Die Nationalsozialisten haben Sozialdemokraten und Kommunisten in SA-Folterkellern verschwinden lassen, drangsalieren bereits die jüdische Bevölkerung und sind dabei, Deutschland gleichzuschalten.

Nur 209 Schüler reisten 1933 nach Frankreich

Der Ingenieur Karl Lorenz war Anfang des 20. Jahrhunderts für eine Stelle bei der Firma Bosch von Zwickau an den Neckar gezogen. Er, seine Frau Olga, die Tochter Gerda und Willi leben in der Bismarckstraße im Stuttgarter Westen. Später kann sich der „Pumpenlorenz“, wie er bei Bosch genannt wurde, ein Haus in Botnang bauen. „Er hatte nicht studiert“, erzählt Andrea Lummer über ihren Großvater, „und er war sehr hinterher, dass sein Sohn Sprachen lernt.“ Die 80-Jährige ist die Tochter dieses Sohnes, Willi. Er ist laut einer wissenschaftlichen Arbeit aus dem Jahr 1989 einer von 209 Schülerinnen und Schülern aus dem Deutschen Reich, die 1933 über den Deutsch-Französischen Austauschdienst ins Nachbarland reisen.

Karl und Olga Lorenz mit den Kindern Gerda und Willi im Jahr 1925. Foto: privat

„Es gehörte schon eine gewisse Offenheit dazu, zwischen den Weltkriegen den Kontakt nach Frankreich zu suchen“, sagt Stefan Seidendorf, der stellvertretende Direktor des deutsch-französischen Instituts in Ludwigsburg. „Das waren meist gebildete Menschen, die eine gewisse Weltgewandtheit und Sprachkenntnisse als Vorteil betrachteten.“ Sogar Charles de Gaulle war vor dem Ersten Weltkrieg bei einer Familie im Schwarzwald zu Gast gewesen, um Deutsch zu lernen.

Am 8. August 1933 schreibt Karl Lorenz den Selzers, Kaufleute in Thiais, einem kleinen Ort vor den Toren von Paris: „Es wird Sie interessieren, wie es Pierre geht und wie er sich angewöhnt hat. Ich kann nur Gutes von ihm berichten. Er ist ein sehr netter und lieber Junge, der sich recht brauchbar zeigt. Wir haben ihn alle sehr gerne. Meine Frau möchte ihn am liebsten hier behalten.“ Seinen Sohn mahnt er: „Du siehst, daß man auch im fremden Land Gastfreundschaft genießen kann, wie in der eigenen Heimat. Zeige dich dieser Gastfreundschaft würdig.“

Germaine Selzer indes schreibt nach Stuttgart, dass ihnen Willi etwas Sorge bereite: Er isst so wenig. Und ihren Sohn mahnt sie: „Spreche so wenig wie möglich Französisch, um besser zu lernen.“

Pierre schreibt auf Deutsch – und in Sütterlin

Die Mahnung fruchtet, zumindest wenn man aus den Briefen schließt, die Pierre nach seiner Rückkehr schreibt. In fließendem Deutsch und im für Franzosen ungewohnten Sütterlin schickt er Neujahrsgrüße an die „liebe Tante und Onkel“. Im April 1934 kehrt Pierre nach Stuttgart zurück. Für eine Arbeitsstelle, die ihm im Geschäft seines Vaters winkt, will er sein Deutsch perfektionieren.

Zu Beginn der Sommerferien reisen Willi und Pierre gemeinsam nach Thiais. Willi schreibt nach Hause: „Der Tod Hindenburgs ist, scheint’s, ein schwerer Schlag für die Bevölkerung. Man liest hier so manches in den Zeitungen, was Ihr sicher nicht wißt.“ Weiter ins Detail zu gehen, wagt der 16-Jährige nicht. „Zumindest auf deutscher Seite musste man damit rechnen, dass Briefe geöffnet werden“, sagt Stefan Seidendorf. Der NS-Staat liest mit.

Leider gibt es von Pierre und der Familie Selzer keine Fotos mehr – aber viele Postkarten und Briefe. Foto: privat

Die deutsch-französische Völkerverständigung zwischen den Familien Selzer und Lorenz geht in den kommenden Jahren lebhaft weiter: Auch Pierres Schwestern Yvonne und Andrée machen Sprachferien in Stuttgart, Olga Lorenz fährt mit Gerda an die Seine. Jeder Sommer bringt Besuche, dazwischen schreiben sich die Familien Briefe – auf Französisch und Deutsch.

Sie schreiben lieber über Erbsen als über Politik

Die Politik sparen sie dabei wohlweislich aus. Lieber erzählen sie von den Erbsen, die nicht wachsen wollen, oder vom Umzug nach Paris – 1935 ziehen die Selzers in die Rue de Rivoli, gleich um die Ecke des Louvre. Während sich Pierre und Willi in ihren Briefen gegenseitig liebevoll auf die Schippe nehmen („Wie geht’s, du altes Schwein?“), haben ihre Väter höhere Bestrebungen: „In Einklang mit Herrn Lorenz verbinden wir dies mit Wünschen für die Dauer unserer Beziehungen – die durch gegenseitige Wertschätzung und Freundschaft ganz natürlich sind – und auch für den Aufbau der freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen unseren beiden Ländern ebenfalls ganz natürlich sein sollten“, schreibt Emile Selzer als Neujahrsgruß 1935.

Willi mit seiner Schwester Gerda – die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1935. Foto: privat

Diese Beziehungen zum Nachbarn bringen die Nationalsozialisten mehr und mehr unter ihre Kontrolle. Von 1937 an darf einen Schüleraustausch nur noch machen, wer Mitglied in der Hitlerjugend oder beim Bund Deutscher Mädel ist. Die Jugendorganisationen der Nazis würden „für die notwendige Auslese“ sorgen, heißt es in einem NS-Fachartikel. Auch Willi tritt wohl irgendwann in die HJ ein – jedenfalls trägt er auf einem Bild die Uniform. Ob er es aus freien Stücken tat oder ob er Probleme für seine berufliche Zukunft fürchtete, weiß seine Tochter nicht. Ihr Vater hat darüber nie gesprochen. „Die Frage danach, wann die Hitlerjugend unvermeidlich wurde, ist nicht so einfach zu beantworten“, sagt der Historiker André Postert, der zu dem Thema forscht und 2021 ein Buch über die Hitlerjugend veröffentlicht hat. „Aber wer keine Probleme im Alltag, im beruflichen und schulischen Umfeld eingehen wollte, musste spätestens ab 1936 Mitglied der Hitlerjugend werden.“

Zur Weltausstellung 1937 ist Willi wieder in Paris. Begeistert schreibt er nach Hause: „Ich habe jetzt auf der Ausstellung alles gesehen und war auch dreimal im Palast der Erfindungen. Es ist alles sehr schön, so daß mir die Zeit gar nicht langweilig wird.“ 1938 schickt Pierre seinem Freund und dessen Familie noch Neujahrsgrüße. Dann reißt der Briefwechsel ab. Es scheint, als werfe die Kriegspolitik Nazideutschlands nun doch einen Schatten auf die Freundschaft der Familien: 1938 zwingt das Münchener Abkommen die Tschechoslowakei dazu, das Sudetenland aufzugeben. Im März 1939 marschieren deutsche Truppen in Prag ein. Am 1. September 1939 überfällt Hitler-Deutschland Polen. Im Mai 1940 überrennen deutsche Soldaten Frankreich in nur wenigen Wochen. Die beiden Familien verstummen.

Ein Freund muss zur Zwangsarbeit nach Stuttgart

Der nächste Brief ist auf den 10. Januar 1943 datiert. Pierre hat ein wichtiges Anliegen: Ein Freund der Familie, ein Monsieur Loubère, „soll jetzt in Deutschland arbeiten. Er fährt nach Stuttgart ab und wird sicher dort ziemlich lange bleiben.“ Eine freundliche Formulierung für ein menschenverachtendes System: Nazideutschland holt junge französische Männer zur Zwangsarbeit über den Rhein. „Der ,Service du travail obligatoire’, sagt Stefan Seidendorf, „betraf alle Männer der Jahrgänge 1920 bis 1922.“ Mehr als eine halbe Million junger Franzosen leisteten im Deutschen Reich Zwangsarbeit. Wer sich entziehen wollte, dem blieb nur eins: untertauchen. So kamen etliche Franzosen zur Résistance.

Karl Lorenz gelingt es offenbar, Erkundigungen über Monsieur Loubère einzuholen. Auf Pierres Brief notiert er, wo der Franzose untergebracht ist: „Sängerhalle, Untertürkheim.“ Und dann: „II. Besuch, Samstag, 23.1.: teilt mit, daß er wieder weg sein muß, weil gesundheitlich untauglich.“

„Ist Willi noch in Rußland?“

Harald Stingele hat vor drei Jahren einen Arbeitskreis zum Thema Zwangsarbeit in Stuttgart gegründet. „Die Sängerhalle Untertürkheim war ein Zwangsarbeiterlager der Firma Daimler-Benz“, sagt er. „Hier waren 242 Franzosen, Belgier und sogenannte Ostarbeiterinnen untergebracht.“ Der Historiker Kevin Schmidt promoviert zum Thema Zwangsarbeit in Stuttgart. „Französische Zwangsarbeiter waren in der Regel privilegierter als die Ostarbeiter“, sagt er. „In ihrer Freizeit durften sie sich freier bewegen, konnten zum Beispiel ins Kino oder in Schwimmbäder gehen.“ Ob Monsieur Loubère nach Frankreich zurückkehren durfte, nachdem er als „gesundheitlich untauglich“ eingestuft wurde? „Das ist möglich. Vorstellbar ist aber auch, dass er anderswo für leichtere Arbeiten eingesetzt wurde“, sagt Schmidt. Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen gab es in Nazideutschland überall – „von der Bäckerei bis zum Rüstungsbetrieb.“

„Ist Willi noch in Rußland?“, fragt Pierre in seinem Brief. Woher er weiß, dass sein Freund als Wehrmachtssoldat an der Ostfront kämpft, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. „Mein Vater hat über den Krieg immer geschwiegen“, sagt Andrea Lummer. Was sie aber weiß: Willi wird in Russland verletzt und liegt lange im Lazarett. Danach kommt er als Besatzungssoldat nach Paris. „Das war typisch“, sagt Stefan Seidendorf. „Wer im Osten verletzt wurde, bekam oft zur Erholung einen Einsatz im besetzten Frankreich.“

Auf den Straßen von Paris treffen sie sich wieder

Und hier nimmt die Geschichte von Willi und Pierre eine unglaubliche Wendung. Am 12. Juni 1943 schreibt Willi nach Hause: „Gestern traf ich Pierre zufällig auf der Straße, so daß ich wohl morgen mal einen kleinen Besuch machen muß. Familie Selzer geht es zeitgemäß. Herzliche Grüße Euer Willi“ Auch Pierre schickt Grüße an „Onkel und Tante“: „Ich freue mich sehr, Willi ganz gesund wiederzusehen. Wie geht’s bei Euch? Bei uns ist alles gut, nur haben wir wenig Essen. Herzliche Grüße Pierre.“ In Wirklichkeit ist gar nichts gut: Paris leidet wie ganz Frankreich unter der deutschen Besatzungsmacht, die plündert, knechtet, Juden zusammentreibt, Résistance-Kämpfer hinrichtet. Und vor den Pariser Lebensmittelläden bilden sich immer längere Schlangen, während Wehrmachts- und SS-Obere rauschende Feste feiern. Ob Willi und Pierre darüber offen sprechen konnten? Ob sie es wollten?

Karl Lorenz ist tief bewegt, als er von diesem Wiedersehen liest. Am 12. Juli setzt er sich an seine Schreibmaschine: „Liebe Familie Selzer! Wir waren sehr gerührt, als wir hörten, daß Willi durch Zufall Pierre getroffen hat.“ Wie „im Märchen“ mute diese Begegnung an. Der fast 60-Jährige denkt an glücklichere Zeiten zurück, „als Pierre und Yvonne und Andrée noch in unserem Garten spielten und Willi und Gerda bei Ihnen auf Ferien weilten.“ Am Ende formuliert er einen Wunsch: „Behalten Sie alle Ihre Freundschaft für Deutschland weiterhin, denn auch dieser böse Krieg muß einmal zu Ende gehen, und aus ihm soll eine Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland hervorgehen, auf die ein vereinigtes Europa aufgebaut wird.“ Karl Lorenz, der nicht im Ersten Weltkrieg kämpfen musste, weil er bei Bosch „unabkömmlich“ war, hat eine Vision, die in den Kriegstagen 1943 wie eine Utopie klingt: „Dann wird es in Europa keinen Krieg mehr geben, so wenig wie in den Vereinigten Nordstaaten Amerikas. Es soll dies der letzte schreckliche Krieg zwischen den großen Kulturvölkern sein.“

14 Jahre nach Kriegsende sehen sie sich wieder

Dass Charles de Gaulle 1962, fast 20 Jahre später, in Ludwigsburg eine Rede an die deutsche Jugend hält, dass der französische Präsident und Konrad Adenauer 1963 den Élysée-Vertrag zur deutsch-französischen Freundschaft unterzeichnen, erlebt Karl Lorenz nicht mehr: Er stirbt 1957.

Willi und Pierre nehmen ihre Freundschaft 1959 wieder auf. Willi reist mit Frau und Tochter nach Paris. Dort angekommen, sagt er: „Jetzt will ich mal gucken, ob der alte Monsieur Selzer noch lebt.“ Er findet Emile in seiner alten Wohnung in der Rue de Rivoli. Die ganze Familie freut sich über den Besuch aus Deutschland. Keine Selbstverständlichkeit, 14 Jahre nach Kriegsende. Pierre und Willi besuchen und schreiben sich, bleiben Freunde – bis zu Pierres Tod Ende der 1990er Jahre. „Mein Vater blieb sein Leben lang frankophil“, sagt Andrea Lummer. „Er sprach Französisch mit dickem schwäbischen Akzent. Und die Franzosen fanden’s großartig.“

Theresa Schäfer, Jahrgang 1981, belegt brav Sprachkurse am Stuttgarter Institut français. Wenn ihre Töchter keine Lust auf Vokabellernen haben, erzählt sie ihnen von Willi und Pierre. Karl Lorenz ist ihr Urgroßvater.

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