Gut zwei Jahrzehnte ist die Wende nun her. Im thüringischen Sömmerda, Partnerstadt von Böblingen, hat sich einiges geändert - zumindest äußerlich.

Sömmerda - Die Neugierde auf diese Gasse ist groß. Kennt noch jemand die beiden Jungen, die auf dem Schwarz-Weiß-Foto von 1990 in Sömmerdas Nachbarort Weißensee mit dem Bollerwagen spielten? Ist das Kopfsteinpflaster noch da? Dass der Trabbi am Straßenrand verschwunden ist, hätte man erwartet. Dann kommt man in die Comthureistraße von Weißensee, die alle mit dem alten Namen Am Kirchberg nennen, und ist überrascht, wie wenig sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert hat. Das Straßenpflaster ist noch da. Einige Häuser stehen leer, einige sind renoviert, eins steht frisch verputzt wieder zum Verkauf. Eine Handynummer hängt an der Tür. Man begegnet Senioren, Fensterscheiben putzend. Die Kinder auf dem Foto kennt keiner mehr.

 

Ein Hausbewohner mittleren Alters lehnt im Unterhemd am Fensterbrett und sagt, Thüringen werde „zum Armenhaus Deutschlands“, wenn hier weiterhin nur Löhne von sechs Euro bezahlt würden. Auf der Schwelle ihrer Haustür sitzt die 72-jährige Ingrid Körner, nach einem Schlaganfall hängt ihr linker Mundwinkel herab: „Meine drei Kinder haben alle nach drüben gemacht.“ Eins sei in Stockach am Bodensee, das wäre zu weit für einen Besuch. Früher hat Ingrid Körner bei Rheinmetall in Sömmerda als Wicklerin gearbeitet. Das Gute an der Wende sei, „dass wir jetzt mehr Rente kriegen“, sagt sie. In einer Karre bringt Körners Mann Futterrüben für die Kaninchen, die die Eheleute in einem Verschlag im Garten halten. Am Montag ist der Tag der Deutschen Einheit, aber zum Feiern sehen die Körners keinen besonderen Anlass: „Wissen Sie, wir haben früher auch gut gelebt. Wir hatten keine Bananen, aber wir hatten Äpfel und das ging auch.“

Das gleiche Klagelied

Abwanderung, Überalterung: in den Dörfern um Sömmerda singen viele das gleiche Klagelied, aber in Weißensee ist die Stimmung besonders bedrückend. Am schmuck renovierten Rathaus von 1351, eines der ältesten Deutschlands, kündigt ein Plakat den „Tanz zur Deutschen Einheit“ an, der Schlagersänger Andreas singt, Eintritt drei Euro. Gleich hinter der Kirche geht es steil runter zum See. Man tritt an die Abbruchkante und traut dem Auge nicht: Neben das mittelalterliche Ensemble Weißensees ist eine Pagodenstadt gesetzt worden, ein China-Garten für 2,5 Millionen Euro. Einige Weißenseer sagen, der ehrenamtliche CDU-Bürgermeister habe sich da ein Denkmal setzen wollen, ein Prestigeobjekt. Selbst Busparkplätze habe er vergessen, nur an wenigen Tagen ist der Garten geöffnet. Aber man werde ihn wiederwählen, es gebe ja niemand anderen.

An Weißensees Marktplatz gibt es nur noch zwei Läden, das „Tattoo Mietz“ und ein Waffengeschäft. Der Waffenhändler, um die 40, zeigt auf die historische Stadtkulisse und zählt die Häuser durch, viele stehen leer: Dort sei der Besitzer verstorben, da residiert der Schützenverein, daneben wohne ein Ehepaar weit über 80, das stattliche Haus mit den Gardinen und den blühenden Geranien stehe leer. Ja, aber wer gießt die Blumen? Das mache die Stadtverwaltung, um den Schein zu wahren. „Die Leute sterben oder ziehen weg.“ Der Händler redet sich in Rage, wenn er könnte, sagt er, würde er sofort auswandern: „Deutschland ist doch ein Irrenhaus.“ Seine Stadt sterbe, aber man baue einen Chinagarten.

In Kindelbrück ist die Stimmung besser

Das nächste Dorf heißt Kindelbrück, und dort ist die Stimmung besser. Am Ortsrand liegt die Straße des Friedens und wirkt recht behaglich. Man hat die alten Mietblöcke renoviert, zum Teil neu verputzt. Der Landkreis Sömmerda liegt im Thüringer Becken, es ist eine im Sommer sehr heiße und trockene Region. Hier in der Straße des Friedens haben die Mieter ihren Grünflächen eine mediterrane Note gegeben, mit Kakteen, Oleander und Clematis. Vor jedem Hauseingang steht eine Bank. Da dürfe jeder sitzen, heißt es. Zwei Rentnerinnen, 68 und 85, erzählen. Sie habe im Gesundheitswesen der DDR gearbeitet, sagt die Jüngere. Wegen eines Rückenleidens habe man sie mit 49 in Rente geschickt. „Die Einheit feiern? Ach, um Gottes willen!“ Für ihre 25 Quadratmeter Plattenbau zahlt sie 230 Euro warm, dazu kämen Strom und Wasser. Einmal hat sie eine Nachforderung von 400 Euro erhalten, das sei hart gewesen.

Viele Wohnungen stünden leer, sagt die Ältere. Ein Mann im Blaumann kommt vorbei, er hat sich hier eine Wohnung gekauft. Man plaudert. „Zweimal im Jahr machen wir im Garten ein Fest mit allen Mietern und Besitzern. Da bringt jeder was mit“, sagt die Frührentnerin. Es klingt, als seien dies für sie die Höhepunkte des Jahres.

"Wir leben heute in einer Mangelgesellschaft"

Sömmerdas Bürgermeister Wolfgang Flögel, 62, ist ein beliebter Mann. Klein, drahtig, einst Gewichtheber. Geht er durch seine 19000-Einwohner-Stadt, rufen ihm die Kinder „Guten Morgen, Herr Flögel“ hinterher. Auf die Frage, ob es eine Sehnsucht nach der alten DDR-Geselligkeit gebe, sagt Flögel: „Allgemein hatten wir ein Gemeinschaftsempfinden, das sich einstellt, wenn man die gleichen Probleme hat. Wir lebten in einer Mangelgesellschaft. Heute haben wir die Überflussgesellschaft, aber viele können sich die neuen Freiheiten nicht leisten.“ Flögel, früher PDS, jetzt parteilos und mit Wahlergebnissen von 76 Prozent gesegnet, sagt, dass die Wiedervereinigung ein Glücksfall für alle Deutschen gewesen sei. Er freut sich, dass treue Besuchergruppen aus der Partnerstadt Böblingen kommen – auch am Sonntag ist eine da.

Einen Nachmittag lang führt Flögel durch Sömmerda, eine komplett aufgefrischte, quirlige Stadt, die sich von einer Weststadt kaum unterscheidet. Die Fußgängerzone: saniert, mit Freiluftcafés ausgestattet. Das Rathaus: makellos renoviert, der Ratskeller serviert Schnitzelberge. Die Plattenbausiedlung „Neue Zeit“: runderneuert, preisgekrönt. Bund, Land und EU haben in 20 Jahren rund 45 Millionen Euro in die Sanierung der Altstadt gesteckt. Als dieser Tage eine Führung durch die Altstadt stattfand, da rutschte einem aus dem Westen stammenden Architekten das Wort vom „goldenen Füllhorn“ heraus, das hier ausgeschüttet worden sei.

Keine industrielle Grundlage mehr

Aber welche Chance hat eine Stadt, der nach der Wende „die industrielle Grundlage weggebrochen ist“, wie Flögel sagt. Sie muss attraktiv sein. Sömmerda, Wirkungsstätte des Gewehrfabrikanten Nikolaus Dreyse im 19.Jahrhundert, war stets Industriestadt. Vor der Wende arbeiteten im Werk Robotron 13000 Mitarbeiter, stellten Büromaschinen und den ersten DDR-Computer, den PC 1715, her. Aus dem Robotrongelände ist ein moderner Industriepark geworden, 3500 Menschen arbeiten hier. Von Sömmerdas berühmter Ziegelei ist bis auf ein Technikdenkmal nichts übrig geblieben. Man hat aus dem Gelände ein Gewerbegebiet gemacht mit einem Supermarkt, der bis 24 Uhr offen hat. Auch der größte Arbeitgeber sitzt hier: Fujitsu-Computers mit 630 Jobs.

Nach der Wende verlor die Stadt 20 Prozent der Einwohner, die Arbeitslosigkeit lag mal bei 23 Prozent. Heute liegt sie bei neun. Man rappelt sich auf. Da gute Leute abwandern, suche das Handwerk wieder Auszubildende, sagt der Bürgermeister. Im übrigen seien die Polytechnischen Schulen der DDR auch nicht schlecht gewesen, da ging man in einigen Klassen stundenweise jede Woche in einen Betrieb.

Belastete Begriffe

Heute suchten die Arbeitgeber ja praxisorientierten Nachwuchs. „Aber manche Begriffe sind belastet“, sagt Flögel. Dann kommt man an einem Kindergarten vorbei, ein Plattenbau, der wegen eines eleganten Anbaus als solcher nicht mehr zu erkennen ist. Wolfgang Flögel sagt, da sei früher ein „Kinderhotel“ drin gewesen. „Wenn die Mutter eine Woche krank wurde, hat sie ihr Kind dorthin gebracht.“ Klingt nach guter Idee. Im Übrigen waren die DDR–Mopeds nicht schlecht, sie feiern ein Comeback. Trabbis sind selten, aber MZ und Simson sieht man in Sömmerda an jeder Ecke. Sie haben den Vorteil, dass sie nicht nur 45 Stundenkilometer, sondern Tempo 60 fahren können.

Viele in Sömmerda sagen, dass sie die Enge des DDR-Regimes erst als Erwachsene spürten, aber eine unbeschwerte Kindheit gehabt hätten. Vor einem sich einschleichenden Gefühl der Ostalgie bewahrt eine Begegnung mit Ulrich Olschewski, der seit 26 Jahren für die städtische Wohnungsgesellschaft arbeitet. In den letzten DDR-Jahren waren in Sömmerda noch Plattenbauten hochgezogen worden, die einen schlechteren Standard hatten als in den 50ern. Bäder und Küchen wurden ohne Fenster gebaut. 3000 dieser „Neubauten“ hat man seit 1990 abreißen lassen. Olschewski ist heute Chef der Wohnungsgesellschaft, er sagt: „Die Einheit war das Beste, was uns passieren konnte. Wir waren doch bankrott.“ Weitere Bilder unter