Peking oder Bietigheim? „Nun“, sagt Riley Sheen, „in Bietigheim geht es etwas ruhiger zu, das gesamte Leben läuft etwas langsamer ab, und die Stadt ist etwas übersichtlicher.“ Er wird nicht häufig abgefragt werden, dieser Vergleich zwischen der Großen Kreisstadt an der Enz (43 000 Einwohner) im Landkreis Ludwigsburg und der chinesischen Hauptstadt (knapp 22 Millionen Einwohner). Bei Riley Sheen liegt er aber auf der Hand, denn der Eishockeyprofi ist hier wie dort seinem Beruf nachgegangen.
27 Tore, 23 Vorlagen – das sprach sich rum bis Bietigheim
Als seine Karriere im heimatlichen Kanada stockte und ihn kein Angebot aus der großen NHL erreichte, entschied sich der Mann aus Edmonton im Alter von knapp 25, sein Glück in China zu versuchen, und zog 2019 in die Hauptstadt, wo er für ORG Peking aufs Eis lief. Der Club spielte in der zweiten russischen Liga (VHL). Sheen erzielte 27 Tore und gab 23 Vorlagen – was sich offenbar bis nach Bietigheim herumsprach. Als sein Agent das Angebot des damaligen Zweitligisten vorlegte, überlegte der Stürmer nicht lange und unterschrieb bei den Steelers. „Die waren in der zweiten Liga mehrfach Meister geworden“, erzählt der Kanadier, „die wollten aufstiegen, und ich dachte: Das ist doch eine tolle Herausforderung.“
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: DEL-Chef Gernot Tripcke über das Corona-Chaos
In Deutschland machte Riley Sheen mit dem Toreschießen dort weiter, wo er in China aufgehört hatte. 28 Treffer steuerte der Linksschütze in der DEL-2-Hauptrunde bei, mit zehn Toren sowie vier Assists war er in den Play-offs maßgeblich am Aufstieg der Bietigheimer beteiligt – und nun im Oberhaus sieht es so aus, als könne er gar nicht mehr aufhören damit, die kleine Scheibe in fremde Gehäuse zu schießen.
Mit 35 Toren liegt der Stürmer auf Platz eins der Torschützenliste, was so kaum jemand erwartet hatte, weil die Steelers Neulinge waren und als Außenseiter galten. In der Scorerliste der DEL finden die Fans seinen Namen auf Platz zwei (56 Punkte) hinter Jason Akeson von den Straubing Tigers (59). „Ich würde lügen“, sagt Trainer Daniel Naud, „wenn ich behaupten würde: Das habe ich erwartet.“ Selbst Sheen ist überrascht von seinem herausragenden Platz in der Statistik. „Daran dachte ich nicht“, sagt er, „ich habe mich im Sommer intensiv vorbereitet, weil ich wusste, dass in der DEL das Niveau noch höher sein würde als in der DEL 2.“
Wendig und ausgebufft
Professionell, diese Einstellung. Vielleicht ist die Art seines Schlittschuhlaufes ein Teil seines Erfolgsgeheimnisses. Der 27-Jährige bringt lediglich 70 Kilogramm auf die Waage, er gleitet schnell und leise übers Eis, er ist extrem wendig, ausgebufft und besitzt diesen gewissen Torriecher. Aber, und das betont Sheen ausdrücklich, ohne seine Mitspieler sei das alles nicht möglich. Die erste Reihe der Steelers mit US-Profi C. J. Stretch, seinem kanadischen Landsmann Evan Jasper und ihm selbst kommt auf 75 Treffer und 70 Assists – sie ist die Überlebensversicherung des Neulings in der DEL. Mehr als die Hälfte der 138 Tore gehen auf das Konto des nordamerikanischen Trios. „Wir harmonieren wirklich sehr gut“, sagt Sheen. „Wir unternehmen auch in unserer Freizeit viel gemeinsam. Die Chemie stimmt einfach.“
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Hinter den Kulissen der Bietigheim Steelers
Nicht nur bei diesen dreien stimmt es, beim gesamten Team aus dem Ellental läuft es ausgesprochen gut. Die Steelers haben sich einen Sicherheitsabstand zum Abstiegsplatz erarbeitet, sie zählen sogar zu den Mannschaften, die sich Hoffnungen auf die Teilnahme an den Play-offs machen dürfen. Sheen führt es auf das gestiegene Selbstvertrauen seiner Kollegen zurück; auch sein exponierter Platz in der Torjägerliste mag dazu beitragen. Bietigheim ist nicht mehr der unterprivilegierte Neuling in der DEL, sondern anerkanntes Mitglied. „Wir wissen, dass wir in dieser Liga mithalten können“, sagt der Stürmer. „Wir können jeden schlagen. Wenn es für die Play-offs reicht, wäre das klasse. Wir denken aber immer nur ans nächste Spiel.“ Der nächste Gegner heißt an diesem Mittwoch Penguins Bremerhaven.
Bietigheim hat Peking etwas voraus
Steelers-Trainer Naud hatte vor den Olympischen Spielen gesagt, er könne sich vorstellen, dass sein treffsicherster Profi ins kanadische Aufgebot berufen werden könnte, da die NHL ihre Profis nicht freistellte. Doch Team Canada lief in China ohne Sheen auf, schied im Viertelfinale gegen Schweden aus, und der Nicht-Nominierte weint dieser verpassten Chance keine Träne nach. „Na ja, man muss sehen, dass viele sehr gute Kanadier in den Ligen außerhalb der NHL spielen“, sagt er, „ich hatte auch nicht fest mit der Teilnahme gerechnet.“
Spannend wäre es sicherlich für ihn geworden, an den Ort seines vorigen Engagements zurückzukehren, noch einmal Peking zu erleben, diesmal aus der olympischen Perspektive. Aber Riley Sheen ist glücklich dort, wo er seine Zelte aufgeschlagen hat – in Bietigheim. „Die Schnitzel hier sind klasse, so was gab es in Peking nicht“, sagt er. Sollte er am Ende der Hauptrunde noch immer bester DEL-Torschütze sein, spendieren ihm die Steelers bestimmt ein besonders großes und leckeres.