Wenn es beim Bundesligarekordmeister FC Bayern München kriselt, läuft es gleichzeitig in der Nationalmannschaft auch eher unrund, wie die Erfahrung in den letzten Jahren zeigte. Die sieben nominierten Stars von der Säbener Straße müssen sich in den kommenden Spielen nun erneut beweisen.

Sport: Marco Seliger (sem)

Stuttgart - Es ist eine der besseren Nachrichten dieser Tage in Berlin, dass Joshua Kimmich unbeeindruckt vom ganzen Krisengerede immer Joshua Kimmich bleibt. Als die Nationalelf zum Auftakt der Vorbereitung auf die nächsten Partien gegen die Niederlande und Frankreich die Zuschauer mal wieder reinließ und nach sage und schreibe vier Jahren ein sogenanntes öffentliches Training abhielt, gab es ein kerniges Abschlussspielchen aufs halbe Feld – und Kimmich gab den Kimmich. Der Profi des FC Bayern München schimpfte wie ein Rohrspatz mit dem Co-Trainer Marcus Sorg, weil der nach Kimmichs Wahrnehmung die Partie mit einem Pfiff viel zu früh unterbrochen hatte.

 

Ehrgeiz als Antrieb

Kimmich wollte ein Tor schießen, Kimmich wollte auch dieses verdammte Trainingsspiel gewinnen, mit dem gleichen heiligen Ehrgeiz, der ihn auch im normalen Leben umtreibt – dort also, wo sich seine Freundin nach jedem gewonnenen Brettspiel daheim am Wohnzimmertisch nicht sicher sein kann, wie ihr Liebster reagiert.

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Der siegessüchtige Kimmich hat es nicht leicht in diesen Wochen. Sein Verein, der FC Bayern, steckt in der Krise, und es müssen schreckliche Gefühle sein, die Joachim Löws neuen Sechser nach einigen deftigen Niederlagen umtreiben. Mit Kimmich leiden auch seine Münchner Teamkollegen in der Nationalelf, die sich in der Hauptstadt noch bis zum Abflug nach Amsterdam an diesem Freitag auf die Spiele gegen die Niederlande am Samstag (20.45 Uhr/ZDF) und gegen Frankreich am Dienstag (20.45 Uhr/ARD) in Paris vorbereitet. Eine große Frage steht dabei über allem: Wie wirkt sich die Krise des FC Bayern auf das Team von Joachim Löw aus?

Altbekanntes Szenario

Es gab ja vor nicht allzu langer Zeit schon mal ein ähnliches Szenario. Weltmeisterschaft, Russland, eine deutsche Elf, die nicht in Form ist – mit einer Achse des FC Bayern, die ihre Probleme mit in die Vorbereitung und ins Turnier schleppte. Vor der WM hatten die Münchner das Finale im DFB-Pokal verloren und zuvor das Endspiel in der Champions League verpasst, es hagelte am letzten Spieltag ein 1:4 gegen den VfB Stuttgart. Die akute Formkrise der Münchner Profis war ein Grund für das Vorrunden-Aus. Ein Vierteljahr nach der Blamage in Russland droht nun ein ähnliches Schicksal.

Joachim Löw setzt wieder auf seine Bayern-Profis, sieben sind nominiert, die meisten werden wohl am Samstag in Amsterdam in der Startelf stehen – und jeder kämpft wieder mit sich selbst. Manuel Neuer, Mats Hummels, Niklas Süle, Thomas Müller, Jérôme Boateng, Joshua Kimmich und Serge Gnabry sind dabei. Zuletzt war keiner von ihnen in Form.

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Und mehr noch: Wer die Bayern zuletzt kicken sah, der dachte fast schon unweigerlich an die deutsche Elf, die sich im Sommer bei der WM versuchte. Irgendwie matt wirkte das Ganze, ausgelaugt, uninspiriert – und, überspitzt formuliert, überaltert. Thomas Müller, Mats Hummels, Jérôme Boateng – all das sind erfahrene Kämpen, die etliche Schlachten auf höchstem Niveau absolviert haben. Das war ihnen mit ihrem müden Auftritt im Sommer in Russland anzusehen. Das ist ihnen jetzt im Herbst in München wieder anzusehen. Ob es ihnen auch im Herbst bei der Nationalelf anzusehen ist, werden die Spiele am Samstag und Dienstag zeigen.

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Zuletzt spielten die Weltmeister von 2014 eine Klasse schlechter als zu ihren Glanzzeiten. Dass sie noch mal die Kurve kriegen, ist alles andere als ausgeschlossen. Aber auch ein anderes Szenario ist denkbar. Löw immerhin gibt sich mit Blick auf die Bayern-Achse optimistisch, das muss er ja auch tun. „Wenn man über Boateng, Hummels, Neuer und Müller redet – sie haben auch viel Erfahrung“, sagt der Bundestrainer. „Sie können auch mal innerhalb von einer Woche eine ganz andere Leistung zeigen.“ Das hofft auch ein Mann, der von München aus genau hinschauen wird. Niko Kovac, der Trainer des FC Bayern, verabschiedete seine Nationalspieler mit dem fast schon rührigen Wunsch, dass sie auf ihrer Länderspielreise doch bitte „den Kopf freibekommen“ mögen.

Ein Kuraufenthalt für die Seele

Das muss man sich noch mal vor Augen halten. Ein Trainer des großen FC Bayern mit seinen großen Nationalspielern will, dass seine Jungs im Kreise des DFB-Trosses wieder in die Spur kommen. Ein Kuraufenthalt für die Seele sozusagen. Vor der WM in Russland war das noch undenkbar. Da kamen die Bayern meist als Könige bei der Nationalelf an, sie waren das personifizierte Mia san mia – stärker als die Stier! Noch jeder Bundestrainer konnte sich in der Regel auf die Bayern-Profis verlassen, das DFB-Team profitierte von der Stärke und dem Selbstbewusstsein der Münchner.

Die bayrische Hauptachse muss liefern

Und jetzt? Flüchten schwache Bayern aus München, sie brauchen den Tapetenwechsel – das Dumme ist nur, dass keiner so recht weiß, woraus sie denn im Kreise der Nationalelf überhaupt Stärke ziehen sollen. Sie sind ja unter Löw selbst die Hauptachse und müssen liefern. Und die Entourage des Bundestrainers ist spätestens seit der WM ja auch ein höchst fragiles Gebilde, das erst wieder in die Spur kommen muss. Bei Löw stellen sich, wenn man so will, die gleichen Fragen wie bei Kovac in München. Wo wollen wir hin, welches System ist das richtige, haben wir den Umbruch zu jüngerem Personal verpasst oder verpassen wir ihn gerade – und wie gut sind wir überhaupt? Spannende Zeiten sind das. In München. Und bei der Nationalelf.