Der Bundestrainer kündigte tiefgreifende Veränderungen nach dem WM-Debakel an – eine Zwischenbilanz vor den wegweisenden Duellen in der Nations League an diesem Samstag gegen die Niederlande und gegen Frankreich am Dienstag.

Sport: Marco Seliger (sem)

Amsterdam - Draußen an der Stadionwand grüßt König Johan standesgemäß auf einem riesigen Plakat, drinnen in den Katakomben hält er auf alten Bildern den Europapokal der Landesmeister hoch – wer vor dem Betreten noch nicht weiß, wie die Arena in Amsterdam genau heißt, bekommt recht schnell sachdienliche Hinweise. Die im März 2016 verstorbene Ajax-Legende Johan Cruyff ist allgegenwärtig in der Johan-Cruyff-Arena – am Freitagabend nun betrat ein Mann zuerst das Pressepodium und später den Platz zum Abschlusstraining, dessen Auftritt wie einst beim großen Virtuosen Cruyff auch irgendwie etwas Majestätisches hatte.

 

Joachim Löw schritt vor der letzten Trainingseinheit der Nationalelf vor dem Nations-League-Spiel an diesem Samstag (20.45 Uhr/ZDF) gegen die Niederlande über den Rasen der Arena wie ein Feldherr – und vorher hatte der Bundestrainer bei seiner Abschlusskundgebung im Obergeschoss auch ein bisschen so gesprochen: recht erhaben, von sich überzeugt. Und ohne eine Spur von Selbstzweifeln.

„Das interessiert mich nicht“

Es war klar, dass Löw gleich zu Beginn auf die Aussagen von Michael Ballack angesprochen wurde – der Ex-Kapitän hatte sein Unverständnis darüber kundgetan, dass Löw trotz der WM-Blamage im Sommer in Russland noch im Amt ist. Der Bundestrainer antwortete darauf dies: „Jeder kann sagen, was er will, das interessiert mich nicht.“ Und weiter: „Ich habe die Überschrift gelesen, dann habe ich nicht weitergelesen. Es interessiert mich diese Woche nicht, und in der nächsten erst recht nicht.“ Rumms, das saß – Löw ließ in gewohnter Manier jede Kritik von außen abprallen und lieferte schon mit diesen klaren Ansagen einen Eindruck davon, wie er ein Vierteljahr nach dem WM-Desaster so tickt. Oder besser: wie er nach wie vor tickt.

Von tiefgreifenden Veränderungen hatte der Bundestrainer noch im Sommer gesprochen. Nun, ein paar Monate später, lässt sich ein Zwischenfazit ziehen. Was also ist tatsächlich neu, was wurde verändert, was ändert Löw an sich selbst – und was eben nicht? Ein Überblick.

Das Auftreten: Nein, er lässt es sich nicht nehmen. Joachim Löw und der Ball, das ist weiter eine heiße Liebe. Vor jedem Training, auch am Freitagabend in Amsterdam, schnappt er sich die Kugel, jongliert, schießt, trickst, tänzelt, meist im Mittelkreis. Die Fotoapparate klicken im Akkord. Löw weiß das, es gibt unentwegt Bilder von ihm und dem Ball. Löw, der Künstler, Löw der Freigeist. So sieht er sich gerne. Etliche Beobachter hatten genau diese Szenen, die der Bundestrainer auch bei der WM in Russland oft produzierte, als Sinnbilder für seine Entrücktheit, für die Abgehobenheit und die Weltfremdheit angesehen. Löw jongliert, ganz allein und nur für sich, während der Rest anfängt zu trainieren oder Hütchen aufstellt. Löw ist nun nach wie vor Löw, er jongliert. Wer was in welche seiner Handlungen auch immer hineingeheimnisst, ist dem Bundestrainer egal. Wenn die Einheiten im Gange sind, ist Löw dann weiter wie gewohnt eher ein stiller Beobachter, der sich im Hintergrund hält.

Die neue Nähe: Ganz und gar nicht mehr egal ist es Löw und dem Tross der Nationalelf, was die Anhänger denken. Die Beziehung zwischen dem DFB-Team und dem Fanvolk an der Basis war selten so schlecht wie in diesem Sommer. Keine öffentlichen Trainingseinheiten, abgehobene Marketing-Slogans, der ganze Kosmos Nationalelf war nicht mehr greifbar und lebte in einer eigenen Welt– das sollte sich ändern, und es hat sich zumindest in Teilen geändert. Dazu gehört nicht nur ein öffentliches Training am vergangenen Dienstag in Berlin und im Rahmen der nächsten Länderspiele im November – Löw und sein Team bleiben jetzt auch am Ankunftstag am Mannschaftshotel länger mal stehen, schreiben Autogramme, machen Selfies. Alle Beteiligten des DFB-Trosses, das ist fast schon zu greifen, wollen nichts falsch machen und auch nur einen kleinen negativen Eindruck vermitteln. Ein Spieler verweigert ein Autogramm und eine Kamera fängt es ein? Bloß nicht!

Die Spielausrichtung: Auch bei der Taktik hat Löw nach der WM einiges verändert – es blieb ihm angesichts des desaströsen Verhaltens seiner Elf bei gegnerischen Kontern und dem Zeitlupenfußball bei eigenem Ballbesitz auch nichts anderes übrig. Von Arroganz hatte Löw nach der WM mit Bezug auf sein offensives Ballbesitzmantra gesprochen – jetzt ist Demut angesagt. Im ersten Nations-League-Spiel gegen den Weltmeister Frankreich im September in München (0:0) war eine stabile Defensive das höchste Gebot, und tatsächlich war das deutsche Spiel nach hinten so sicher und griffig wie lange nicht mehr. Nach vorne allerdings ging eher wenig – jetzt soll genau da gegen die Niederlande und am Dienstag beim Rückspiel gegen die Franzosen der nächste Schritt folgen. Stabilität gepaart mit neuer Offensivkraft, sprich mit mehr Tempo, eigenen Kontern und Überraschungsmomenten, das ist die Losung. Unentwegt ist im deutschen Lager in diesen Tagen von der Balance zwischen Angriff und Abwehr zu hören. Die Null soll jetzt nur noch hinten stehen.

Das Personal: So sehr Löw auch die Taktik ändert – seine Spieler bleiben die gleichen. Mit dem Stürmer Mark Uth hat Löw nur einen Neuling in den aktuellen Kader berufen. Die Achse mit den Profis des FC Bayern München steht, der Rest ist ebenso altbekannt – und aus Löws Sicht altbewährt. Einen personellen Umbruch gibt es nicht unter dem alten und neuen Bundestrainer. Bestes Sinnbild dafür ist der Linksverteidiger Jonas Hector, der nun mit dem 1. FC Köln in der zweiten Liga spielt und sich sicher sein kann, dass Löw ihn weiter wie am Freitag lobt („Jonas hat seit 2016 immer gute Leistungen für uns gebracht“), nominiert und aufstellt. Der in der vergangenen und aktuellen Saison stark aufspielende Philipp Max vom FC Augsburg wartet bis heute auf einen Anruf des Bundestrainers.

Löw, so viel steht fest, ist weiter ganz bei sich. Er ist selbstsicher, er ist überzeugt von seiner Arbeit. Als der Coach am Ende der Fragerunde in Amsterdams Arena nach dem Druck gefragt wird, der vor den Duellen gegen die Niederlande und Frankreich auf ihm laste, sagt er dies: „Druck? Ich bin seit 2006 Bundestrainer – und ich habe in der Nations League doch nicht mehr Druck als bei der WM 2010, 2014 oder auch schon 2006.“ Warum, so der Trainer weiter, solle er Druck spüren: „Das muss ich verneinen.“

Ob mit Druck oder ohne – Löw und der DFB, so berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ am Freitagabend, können ihr Arbeitsverhältnis im Jahr 2020 vertragsgemäß vorzeitig beenden. Löws vor dem WM-Desaster in Russland vorzeitig bis 2022 verlängerter Kontrakt enthält demnach eine beidseitige Ausstiegsklausel. Beide Parteien haben nach der EM in knapp zwei Jahren offenbar das Ausstiegsrecht.