Nach dem 0:1 gegen Mexiko zum Auftakt der WM in Russland umgibt das deutsche Team Krisenstimmung. Die Mannschaft um Bundestrainer Joachim Löw schottete sich am Montag ab – und machte sich daran, die Probleme aufzuarbeiten. Es gibt einige davon – aber auch noch Hoffnung.

Sport: Marco Seliger (sem)

Moskau - Die Nachricht an die Medienvertreter kam nur wenige Stunden nach dem Schlusspfiff am Sonntagabend in Moskau, und sie war eindeutig. Keine Pressetermine am Montag. Kein Zugang zum Training. Alles findet hinter verschlossenen Türen statt. Das ist an sich nicht unüblich am Tag nach dem Spiel bei großen Turnieren. Allerdings: Auch die schon vor dem Mexiko-Spiel angesetzte Pressekonferenz mit Philipp Lahm, dem Weltmeisterkapitän von 2014, der als offizieller Botschafter in Moskau für die deutsche Bewerbung um die EM 2024 unterwegs ist, wurde kurzfristig abgesagt.

 

Offenbar rechnete man im DFB-Lager mit einem Auftaktsieg – und nicht mit Krisenfragen an den Ex-Kapitän am Tag danach, die nun sicher gekommen wären. Die geballte Abschottung passt nun irgendwie ins Bild, denn es ist nach diesem teils desaströsen Auftreten gegen Mexiko nicht übertrieben zu behaupten, dass Alarmstimmung herrscht im deutschen Lager – und dass es deshalb intern einiges aufzuarbeiten gibt.

Die Taktik

Jérôme Boateng brummte gewohnt leise und sonor, aber was er sagte, war an Deutlichkeit nicht zu überbieten. „Mit so einem Auftritt kann man kein WM-Spiel gewinnen“, schimpfte der Innenverteidiger. Was Boateng meinte, erklärte sein Nebenmann Mats Hummels: „Unsere Absicherung ist nicht gut.“ Genau das war bereits in der WM-Vorbereitung das Kernproblem, deshalb hatte Joachim Löw noch kurz vor dem ersten Spiel intensiv daran arbeiten lassen, das Umschaltspiel nach hinten war auch Thema mehrerer Sitzungen im Quartier in Watutinki. Denn jeder rannte vor und kaum einer noch zurück, und wenn doch, dann nicht schnell genug. Und jetzt? Wurde gegen Mexiko alles noch viel schlimmer. „Jetzt ist WM, und wir haben es immer noch nicht kapiert“, maulte Boateng.

Der Bundestrainer wird sich jetzt etwas einfallen lassen müssen. Seine Ansage vor dem Turnierstart, nach der jetzt alle bereit seien, wurde von den Mexikanern ad absurdum geführt, weshalb der Coach nun eigentlich kaum noch umhinkommt, die Wende herbeizuführen. Sprich: eine andere Taktik mit mehr Absicherung zu wählen, mit Außenverteidigern, die defensiver stehen. Mit zentralen Mittelfeldspielern, die nicht nur nach vorne stürmen. Und mit Offensivkräften, die im Gegensatz zu Thomas Müller oder Julian Draxler in Form sind. Marco Reus zum Beispiel ist da ein Kandidat für die Startelf.

Die Selbstgefälligkeit

Wird schon alles. Der Löw, der bekommt das wie vor jedem großen Turnier wieder hin. Die Weltmeister von 2014, dazu die aufstrebenden Confed-Cup-Sieger von 2017 wie Joshua Kimmich – eine tolle Mischung ist das im Kader. Und überhaupt: All diese Nebengeräusche, die Affäre von Özil und Gündogan, die Fotos mit dem türkischen Präsidenten, die Verletzungen, die Formkrisen, die schwachen Spiele in der Vorbereitung – alles wird weg sein, wenn die WM losgeht. Das dachten sie im inneren Zirkel des DFB, und das war in weiten Teilen der Öffentlichkeit eine recht verbreitete Meinung. Der Auftakt gegen Mexiko zeigte: Nichts ist erledigt, und gar nichts ist besser. Zum ersten Mal in seiner Amtszeit schaffte es Löw nicht, sein Team zum Auftaktspiel bei einem großen Turnier in Form zu bringen. Die Züge der Selbstgefälligkeit, die sich im Lager breitmachten, kommen wie ein Bumerang zurück.

Und jetzt? Der Trainer ist bekannt dafür, sich von äußeren Einflüssen und Meinungen frei zu machen, betonte nach dem Auftakt auf Nachfrage in bester Löw-Manier dies: „Nein, einen Plan über den Haufen schmeißen, das machen wir schon gar nicht.“ Und weiter: „Wir werden nicht von unserem Weg abgehen. Wir werden jetzt nicht etwas völlig anderes tun. An unserer Linie halten wir fest. Wir müssen einige Korrekturen anbringen. Es gibt aber keinen Grund, völlig auseinanderzufallen.“

Joachim Löw, der Weltmeistertrainer, der über den Dingen steht, der sein Ding durchzieht, weil er so sehr vom eigenen Plan überzeugt ist, vertraut also weiter erst mal sich selbst und seinen bewährten Kräften. Bei vergangenen großen Turnieren ging das zumeist gut. Wo diese Haltung jetzt hinführt, wird sich in den beiden nächsten Gruppenspielen zeigen. Dieselbe Startelf wie gegen Mexiko wäre da allerdings so etwas wie ein Treppenwitz.

Das Betriebsklima

Es gab nach dem Spiel gegen Mexiko zwei Meinungen darüber, was das Binnenklima in dieser deutschen Elf anging. Die erste ging so: Ein reinigendes Gewitter hat noch nie geschadet, und es setzt jetzt ganz bestimmt enorme Kräfte frei. Denn es war ja so am Abend in Moskaus Luschniki-Stadion: So ziemlich jeder lederte ordentlich los und sprach Klartext. Mats Hummels fühlte sich von den Vorderleuten im Stich gelassen, Jérôme Boateng lamentierte, dass „dir da permanent die Gegenspieler im Rücken weglaufen und dir keiner etwas sagt“. Er meinte die Mitspieler auf dem Platz. Die hinterher auch fröhlich meckerten.

Joshua Kimmich, der junge Rechtsverteidiger, der auf dem Weg ist zum Führungsspieler, sprach davon, dass man es doch auf dem Platz über die Mentalität regeln möge, wenn man es wie gegen Mexiko über die Qualität nicht schafft. Sich selbst meinte Kimmich damit nicht. Und Timo Werner, der Stürmer in vorderster Front, betonte, dass die einen im Team vor- und die anderen zurückrennen. Und: „Das sollte jetzt der letzte Warnschuss gewesen sein.“ Dann sagte Werner noch einen ziemlich interessanten Satz: „Ich bin da vorne ja nur das ausführende Organ.“

Immer feste druff also – das aber meist gegen die Mitspieler. Keiner fing bei sich selbst an, was dem reinigenden Gewitter wiederum die Kraft nehmen könnte. Die klaren Worte könnte man zugespitzt auch als Beginn der Selbstzerfleischung im deutschen Kader deuten. Bei Mats Hummels etwa war kein Neben- oder Vordermann daran schuld, dass er sich selbst unbedrängt krasse Fehlpässe und Stellungsfehler leistete. Und Kimmich schlug auch schon mal bessere Flanken und stand hinten sicherer, was wiederum sicher nicht an der Mentalität der Nebenleute lag.

Klar ist: Nur wenn die Egos hintangestellt werden, wenn man sich intern wirklich zusammenrauft und jeder Einzelne das dann auch wirklich so meint, nur dann kann es noch was werden mit dem deutschen Team in Russland. Es braucht so etwas wie eine Jetzt-erst recht-Mentalität. Ohne Rücksicht auf die eigene Eitelkeit.

Das Personal

Die Elf, die am Sonntag auf dem Platz stand, war mit fast 28 Jahren im Schnitt die älteste deutsche Mannschaft seit dem Finale 2002. Weshalb sich ein Eindruck fast schon ein bisschen aufdrängte: 2010, beim Turnier in Südafrika, begann der Aufstieg dieser Jungs, 2014 dann in Brasilien erklommen sie den Gipfel, jetzt scheinen sie beim Abstieg in Russland angelangt zu sein. Darauf angesprochen, behauptete Joachim Löw später dies: „Wir haben eigentlich eine junge Mannschaft.“

Diese Meinung hatte er dann doch recht exklusiv. Denn acht Weltmeister standen in der Startelf – und nur Kapitän Manuel Neuer war in Normalform. Toni Kroos etwa wirkte überspielt, das Tempo in seinen Rückwärtsbewegungen war gelinde gesagt überschaubar, Sami Khedira wurde seinem Führungsanspruch zu keinem Zeitpunkt gerecht, und Thomas Müller gab sich als Phantom: Er war fast nicht zu sehen.

Nun ist es für Abschiedsworte noch viel zu früh, den Helden von 2014 ist auch 2018 vieles bis alles zuzutrauen, wenn sie denn noch in Form kommen. Allerdings: So mancher Weltmeister bewegte sich gegen Mexiko so schwerfällig über den Platz, als hätte man ihm einen schweren Rucksack auf den Rücken gebunden. Die Zeit scheint reif für frischen Wind in der Startelf. Marco Reus, Niklas Süle, Leon Goretzka, und ja, auch Ilkay Gündogan heißen die Kandidaten.

Die Aussichten

Mario Gomez ließ sich die Laune nicht komplett verderben. Im Gegenteil: Der gegen Mexiko spät eingewechselte Stürmer des VfB Stuttgart gab sich optimistisch. „Man wird nicht im ersten Spiel Weltmeister. Nur zur Erinnerung: Spanien hat 2010 auch das erste Spiel verloren.“ Und stürmte danach in Südafrika zum Titel. Fast schon trotzig gab sich später Joachim Löw, als er darauf angesprochen wurde, dass drei der letzten vier Weltmeister – Frankreich 2002, Italien 2010, Spanien 2014 – bei der nächsten WM in der Vorrunde ausgeschieden seien und ob das den deutschen Titelverteidigern nun auch passiere: „Uns wird es nicht passieren, wir werden es schaffen“, betonte der Bundestrainer mit Nachdruck. Dazu braucht es Erfolge gegen die nächsten Gruppengegner Schweden und Südkorea. Gegen Teams also, die um einiges schwächer einzustufen sind als Mexiko. Was immerhin ein bisschen Hoffnung machte an diesem tristen Montag in Watutinki.