Lutz Seiler hat in Frankfurt den Deutschen Buchpreis entgegengenommen. Sein Insel-Epos „Kruso“ ist der beste Roman des Jahres.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Frankfurt - Man hat schon größere Überraschungen im Kaisersaal des Frankfurter Römers erlebt. Vor zwei Jahren zum Beispiel, als die bis dahin vor allem als Lyrikerin hervorgetretene Ursula Krechel sich mit ihrem Roman „Landgericht“ ziemlich unvermutet gegen den als Favoriten gehandelten Stephan Thome durchsetzen konnte. Nun geht der Deutsche Buchpreis abermals an einen Lyriker. Und doch stand Lutz Seiler diesmal schon für viele als sicherer Sieger fest. Seine Hiddensee-Robinsonade aus den letzten Tagen der DDR, „Kruso“, darf sich mit dem Titel bester Roman des Jahres schmücken.

 

Nur kurz, als der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, mit gespieltem Staunen auf den Inhalt des Kuverts blickte, das von einer routinierten Stunde Buchpreis-Suspense erlösen sollte, durchflatterte ein Hauch von Spannung den Raum. Etwa doch das andere Eiland, Thomas Hettches „Pfaueninsel“? Oder gar, aus Stuttgarter Sicht besonders interessant, Heinrich Steinfests Fabuliergebirge „Der Allesforscher“, der seine Hauptfigur von der Höhenangst kuriert und seine Leser von der Furcht vor dicken Büchern? Nein, Riethmüller beherzigt nur die Regeln des Spiels, auch wenn es schon längst entschieden ist.

„Kruso“ also, wer könnte im Jahr 25 nach dem Mauerfall daran etwas auszusetzen haben. Außer vielleicht eben dies: dass Seiler dem Rückenwind der Geschichte und des Gedenkens jenen Schritt verdanken könnte, den er seinen Konkurrenten voraushat. Und um gleich in der sportiven Metaphorik zu bleiben, lässt sich mit Blick auf die zehnjährige Geschichte des Buchpreises geradezu von einem Dreisprung durch die Milieus der DDR sprechen: von Uwe Tellkamps Bildungsbürgertum im „Turm“ von 2008 über Eugen Ruges Nomenklatura-Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ 2011 nun zu Seilers Gesellschafts-Schiffbrüchigen.

Wer auf der Insel Hiddensee war, diesem Sehnsuchtsort der DDR, der „hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten“, wie es in „Kruso“ heißt. An diesem Fluchtpunkt, in dem sich innere und äußere Emigration schneiden, siedelt Seiler die Geschichte des Tellerwäschers Ed und seines Meisters Kruso an. So wie einst Robinson ähnlichen Namens die Prinzipien der Zivilisation gegen die Wildnis verteidigt hat, so verteidigt Kruso die innere Freiheit gegen die äußeren Drangsale des Regimes. Seinem lyrisch bewanderten jungen Gehilfen öffnet er die Sinne für das Überlebensmittel Literatur.

Man dürfe in diesem jungen Freitag durchaus ein Porträt des Schriftstellers als junger Mann sehen, sagt der glückserschöpfte Seiler hinterher im Gespräch. „Ein Gedicht konnte als die kostbarste Sache der Welt angesehen werden, das ist der Glutkern dieses Buches.“ Er verleiht seiner Sprache eine Atmosphäre, so dicht und leuchtend, als würde hier zum ersten Mal das eigenartige Wesen dieses Zwischenreichs benannt. Und tatsächlich ist dieser Roman, wie die Jury um die Kritikerin Wiebke Porombka urteilte, auch ein Requiem für die namenlosen Toten, die von Hiddensee aus übers Meer den Weg von der inneren in die äußere Freiheit suchten. Der Mauerfall kommt übrigens gar nicht vor. „Vielleicht braucht es 25 Jahre, um von dieser Zeit erzählen zu können, ohne dass immerzu die Mauer fällt“, sagt der Autor.

Dass der Lyriker Seiler die Geschichte, die der Romancier Seiler erzählt, gleichsam mitsummt, verleiht diesem Buch seinen bestrickenden Sound, macht es aber nicht immer einfach zu lesen. Und ohne seinen Rang schmälern zu wollen, sei die Prognose gewagt, dass sich seine Verkaufszahlen zwar in Höhen bewegen werden, von denen ein Lyriker nur träumen kann, dass aber die Zahl derer, die es zu Ende lesen, weitaus niedriger liegen dürfte. Den beiden Buchhändlern unter den sieben Juroren müsste dies zu denken geben.

Auf jeden Fall sollte man sich von diesem besten Roman nicht den Blick für die anderen Besten verstellen lassen, die die Jury ins Rennen geschickt hat. Denn man brächte sich um vieles, orientierte man sich nur am Sieger. Thomas Hettches Roman „Pfaueninsel“, der aus der Zwergenperspektive all die großen Ideen verhandelt, die sich um Schönheit, Kunst, Liebe und Tod ranken, ist ein Meisterwerk. Wie bei Seiler der Lyriker hat bei Hettche der scharfsinnige Essayist mitgeschrieben: Schönheit und Klarheit sind nicht nur Gegenstand, sondern Eigenschaften seines Buches – wer hier eine persönliche Präferenz heraushört, liegt nicht falsch. Angelika Klüssendorfs „April“ – auch eine Art Porträt der Schriftstellerin als junger Frau, auch ein Buch deutsch-deutscher Alltäglichkeit – legt man nicht mehr aus der Hand, wenn man es begonnen hat. Schönheit und Klarheit nämlich kann ein Leben auch besitzen, wenn in ihm alles zu missraten scheint.

Das Bild, in dem Lutz Seiler in seiner Dankesrede die Qualitäten seiner Kollegen würdigt, wird dem Stuttgart-21-kritischen Heinrich Steinfest sehr eingeleuchtet haben: Der Bahnhof der Literatur, so der Preisträger, dürfe nicht nur über ein einziges Gleis verfügen, besser, es sind sechs oder noch mehr – erst mit zwanzig Gleisen werde ein Eisenbahnhalt zum Bahnhof einer Metropole. Man kann die Short- und Longlist auch als Kursbuch nutzen. Was der beste Zug ist, hängt ganz davon ab, wohin wir wollen. Unter dieser Voraussetzung kann das Abenteuer Buchmesse beginnen.