In Berlin macht der Schwabe Reinhold Steinle Berlin-Touristen Neukölln schmackhaft.

Berlin - Reinhold Steinle steht kerzengerade vor dem KGB 44, der „Kreativen Gesellschaft Berlins“, in der Hertzbergstraße 1 am historischen Richardplatz in Neukölln und wartet. Zu seinen Füßen steht sein Markenzeichen, eine alte braune Ledertasche fürs Büro. Seitlich ragt aus ihr eine knallrote Plastik-Gerbera. „Ich hab mir denkt“, sagt der Stadtführer mit schwäbischem Akzent, „sollten die Gruppen mal größer werden, darf mir ja keiner verloren gehen. Und damit die sich orientiere könnet, hab ich diese Gerbera gekauft.“

 

Seit 2008 bietet der Mann mit der Ledertasche Stadtführungen in Berlin-Neukölln an. Damit ist er nicht der Einzige. Aber er ist der einzige Schwabe. Steinle ist eigentlich Nachlassverwalter von Beruf. Aber aus seiner Begeisterung für Neukölln hat er eine Berufung gemacht und die Figur des Reinhold Steinle erfunden. „Neukölln positiv“ lautet sein Thema. Auslöser war der schlechte Ruf des Bezirks. Steinle holt einen Zeitungsartikel aus seiner Tasche und liest vor: „Da in Neukölln 99 Prozent der Bevölkerung kriminell sind und jeder jeden beklaut, gibt es keine Kriminalität in Neukölln. Hauptwirtschaftsfaktor ist der Handel mit Amphetaminen, Billigfusel, geklauten Fahrrädern, Schusswaffen und Döner.“ - „Ich hab dacht, dagegen müsst mr was machen“, so Steinle, der selbst im beschaulichen Nachbarbezirk Tempelhof wohnt, „sonscht kommet die ja älle zu uns nüber, wenn der Flughafen dazwischen zumacht.“

Am 27. Januar 2012 feierte man 100 Jahre Umbenennung von Rixdorf in Neukölln

Es ist vor allem der historische Kern, das alte böhmische Rixdorf, an das der Mann sein Herz verloren hat. „Da ist die Schmiede, da ist der Droschkenkutscher Schöne, der böhmische Gottesacker. Ach . . . !“, seufzt Steinle, der selten einen Satz zu Ende spricht und vor allem das „u“ im Umlaut „au“ in die Länge zieht. Aber am Richardplatz, erzählt er, hat er feststellen müssen, da ist auch Schwaben. Auch ganz ohne Schwaben: „Das ist dieser Neid, immer zu gucke, oh, in dem Café sitzet drei drin, aha, der macht jetzt a Stund früher uff, ja, da mach ich jetzt anderthalb Stunden früher uff. Das sind alles gar keine Schwaben, aber des gibt’s hier genauso.“

In diesem Jahr ist vor allem sein Zahlengedächtnis gefragt, denn ein Jubiläum jagt das nächste: Am 27. Januar 2012 feierte man 100 Jahre Umbenennung von Rixdorf in Neukölln, am 17. Juni wird in der Kirchgasse mit einer großen Kiez-Kaffeetafel die Einweihung des Denkmals König Friedrich I. vor 100 Jahren begangen, und das ganze Jahr hindurch wird der Einwanderung der böhmisch-protestantischen Glaubensflüchtlinge vor 275 Jahren gedacht. Gekommen waren sie 1737 auf Einladung des Soldatenkönigs, der nach dem Dreißigjährigen Krieg seine entvölkerten Landstriche beleben musste. Am Richardplatz ließ der König neun Doppelhäuser bauen. Schnell bildete sich damals heraus, wofür Neukölln heute noch berüchtigt ist: ein Paralleluniversum. Skeptisch wie die türkischen, bulgarischen und arabischen Einwanderer heute wurden damals die böhmischen von den Deutschen beäugt. Die frommen Protestanten, die Tschechisch sprachen, bewahrten ihre Traditionen und Gebräuche, was sich bis heute an vielen Details ablesen lässt.

Manchmal geht Steinle mit den Besuchern in ganz normale Geschäfte

An diesem Samstag sind 15 Personen zu seiner Rixdorf-Führung erschienen. Hingerissen, aber auch irritiert durch Steinles starken Akzent, lauschen sie seinen skurrilen Ausführungen. Etwa, wenn es um den Schreibfehler auf dem Logo des neuen Bäckers in der Hertzbergstraße geht, der auf seinem Schild „Herzbäcker“ das „t“ vergessen hat. Oder wenn Steinle die Aufmerksamkeit auf die kleinen Korkfigürchen lenkt, die jemand auf einigen Straßenschildern angebracht hat: „Die hat der Yogalehrer Josef Foos von da vorne gemacht“, Steinle rudert mit den Armen, „das sind unterschiedliche Yogastellungen, und die halten alle Windstärke neun aus!“ Weiter geht’s zum Böhmischen Platz, wo es Street Art gibt, vegane Cafés, ein Puppentheater und die alte Drogerie mit dem vergilbten Klosterfrau-Melissengeist-Schild.

Manchmal geht Steinle mit den Besuchern in ganz normale Geschäfte, und alle kommen mit der Lebensgeschichte des türkischen Besitzers und einem heißen Tee wieder heraus. Die Art, wie sich der Schwabe in diesem schroffen Kiez engagiert, hat ihn bekanntgemacht. Steinle macht mit beim Kiezsender Neukölln-TV, auch rbb und ZDF waren schon da. Und er ist umjubelter Moderator des jährlichen Propráci, des Rixdorfer Strohballenrollens rund um den Richardplatz. Verschiedene lokale Teams wettstreiten, wer am schnellsten zwei schwere Heuballen um den Platz rollt. Sein guter Einfluss auf den Kiez erfüllt Reinhold Steinle mit einem gewissen Stolz. Zum Schluss zitiert er Herrn Buschkowsky, den Neuköllner Bürgermeister: „Im Herzen ist jeder ein Neuköllner.“

Infos zu Berlin

Anreise
Zum Beispiel mit Airberlin, www.airberlin.com, oder Lufthansa, www.lufthansa.com, von Frankfurt, Stuttgart oder München nach Berlin. Geht auch mit der Deutschen Bahn, www.bahn.de.

Schwäbische und andere Stadtführungen
Reinhold Steinle,www.reinhold-steinle.de, Anmeldung zur Stadtteilführung, auch für Gruppen, unter Tel. 030 / 53 21  74 01.

Kutschfahrten am Richardplatz: Kutschen Schöne, Richardplatz 18, Tel. 030 / 6 84 50 61

Weitere Stadtteilführungen der besonderen Art, etwa mit Frauen und Mädchen aus Rixdorf, dem Kiez, rund um den Richardplatz, www.route44-neukoelln.de.

Essen und Trinken am Richardplatz
Villa Rixdorf, www.villa-rixdorf.com, Richardplatz 6, leckere Riesenpizza; Louis, Richardplatz 5, berühmt für seine Riesen-Schnitzel

Vux, www.vux-berlin.com, Wipperstraße 14, veganes Café; Eis und Waffeln: Fräulein Frost, Friedelstraße 38 (Reuterkiez).

Unterkunft
Hüttenpalast, Übernachtungen in Wohnwagen und Hütten in einer Halle, 45 bis 65 Euro pro Person, www.huettenpalast.de, Hobrechtstraße 65-66, Telefon 030 / 37 30 58 06.

Hotel Karibuni, www.karibuni-hotel.de, Neckarstraße 2, Tel. 030 / 6 87 15 17, 38-63 Euro pro Person.

Geheimtipp im Reuterkiez:
www.berliner-zimmer.de, Kontakt: Angela de Ridder, Schinkestraße 8-9, 12047 Berlin, Telefon 030 / 6 93 44 49, 35-55 Euro pro Person.