Ramsau im Berchtesgadener Land verweigert sich dem Ausverkauf der Natur. Dafür erhielt die Gemeinde das Gütesiegel „Bergsteigerdorf“.

Selten war das Schneeschuhgehen so wenig anstrengend. Statt im Zickzack gegen die Höhenlinien geht es in einen sanft ansteigenden Taleinschnitt hinein. Zur Linken liegt ein 100 Meter breites Bachbett im Winterschlaf, zur Rechten steigen tief verschneite Märchenwälder auf. Hinter einem alten Jagdhaus öffnet sich die Landschaft dann zu einem spektakulären Felsenkessel. Zwei Gämsen schauen interessiert herüber, bevor sie ohne jede Eile den Tobel queren. Die Zeit steht still. Weiter kann man sich von der modernen Zivilisation nicht entfernen! Das Wimbachtal liegt im Herzen des Nationalparks Berchtesgaden und ist in dieser Jahreszeit nur auf Schneeschuhen und Tourenskiern erreichbar. Von hektischem Treiben bleibt man allerdings auch im Sommer verschont - Mountainbiker und andere Trendsportler müssen draußen bleiben. Zwischen Watzmann, Hundstod und Hochkalter findet man, was es im Freizeitpark Alpen sonst kaum mehr gibt: einen Erholungsraum, aus dem die Errungenschaften der modernen Outdoor-Industrie verbannt sind, ein Reich der Stille, in dem der Fußgänger noch König ist. Dass in einem Nationalpark untersagt ist, was Flora und Fauna schaden könnte, wird niemanden verwundern. Weniger selbstverständlich ist aber der hohe Stellenwert, den der Umweltschutz im zuständigen Gemeinderat hat. „Das wichtigste Kapital eines alpinen Feriendorfes ist die intakte Natur und diese wiederum ist die Grundlage für einen zukunftsfähigen Tourismus“, sagt Herbert Gschoßmann, der Ramsauer Bürgermeister: „Wer hingegen einen Weg einschlägt, bei dem die Landschaft stark strapaziert wird, etwa für den Skisport und andere moderne Aktivitäten in freier Natur, der kann irgendwann nicht mehr umkehren, wird immer mehr Ressourcen verbrauchen und sich damit zuletzt den Ast absägen, auf dem er sitzt.“

 

Zurückhaltung brauche es deshalb auch in der kommunalen Baupolitik. Schließlich kämen die Leute in die Alpen, um ein behagliches Gegenmodell zur urbanen Intensivbebauung zu erleben. Wer vom Rathaus aus ins Dorfzentrum wandert, findet den Bürgermeister bestätigt: Nirgendwo trüben Liftkabel, Hochspannungsleitungen, Hotelkästen und Großparkplätze das Idyll. Unbedrängt plätschert die Ramsauer Ache durch die schmale Talaue, an deren Rand sich die eine oder andere Häusergruppe an den Hang duckt. Obwohl die meisten Gebäude neueren Datums sind, passen sie sich in das kleinräumige Landschaftsbild ein - genau wie die urigen Holzbrücklein, die die Ufer des Wildbachs miteinander verbinden. Kein Zweifel, Ramsau gehört nicht zu den gesichtslosen Wucherungen, die anderswo im Alpenraum noch Dorf genannt werden. Für dieses Maßhalten hat Ramsau die Auszeichnung „Bergsteigerdorf“ erhalten - ein Gütesiegel des Österreichischen Alpenvereins, das jetzt erstmals auch vom Deutschen Alpenverein vergeben wurde. Es zielt darauf, Berggemeinden zu unterstützen, die aus der Aufrüstungsspirale großer Tourismuszentren aussteigen und sich einem umwelt- und sozialverträglichen Alpentourismus verpflichten. Ein Lippenbekenntnis zur „nachhaltigen Entwicklung“ reicht den Alpenvereinen aber nicht.

Die Auflagen des "Bergsteigerdorfes"

Wer „Bergsteigerdorf“ werden will, muss strenge Auflagen erfüllen: Der Bau neuer Großhotels, Liftanlagen und Speicherseen ist genauso tabu wie die weitere Aufrüstung mit Schneekanonen. Eingriffe ins Landschaftsbild sind ab einer gewissen Dimension verboten, so auch das Errichten von Wind- und Wasserkraftanlagen, zumindest in Gebieten mit Schutzstatus. Ramsau hatte keine Mühe, diese Bedingungen zu erfüllen: Die 1800-Seelen- Gemeinde liegt auch weit genug von Autobahnen, Flugplätzen, Großstädten und Industriezonen entfernt und verfügt über die geforderte Infrastruktur mit Wanderwegen, Markierungen und Hütten. Gipfelstürmer kommen zwischen Watzmann, Reiteralm und Götschenkopf genauso auf ihre Kosten wie Genusswanderer und Spaziergänger. Zudem fanden sich genügend Partnerbetriebe, die das neue Konzept mit Leben füllen - Hotels und Gasthäuser vor allem, die mit der Veredelung regionaler Produkte die lokalen Wirtschaftskreisläufe stärken, womit die Abhängigkeit von externen und kurzfristigen Profitstrategien geringer wird. „Das Wichtigste am neuen Gütesiegel ist, dass es uns auf einen unmissverständlichen Kurs verpflichtet“, meint der Wirt der Seeklause, dessen regionale Speisekarte Modellcharakter hat. Damit sei „endlich der Deckel drauf“, und der Ruf nach neuen Liften und Funparks sei verstummt. Andererseits hat man Glück, dass das Reglement keine Obergrenze für die Gästezahlen festlegt. Mit seinen 330 000 Übernachtungen ist Ramsau nämlich nicht mehr weit von der Schmerzgrenze entfernt.

Mehr als 100 000 Menschen stiefeln jedes Jahr durch das Wimbachtal, was einen erheblichen Druck auf die Landschaft bedeutet. Fritz Rasp, der seit Jahrzehnten das Ramsauer Tourismusbüro leitet, wirbt daher für einen Besuch seiner Gemeinde im Winter: „In der kalten Jahreszeit ist unser Landschaftsparadies genauso gut zu entdecken, noch besser sogar, weil jetzt viel weniger Leute unterwegs sind.“ Deswegen soll jetzt das Angebot für Schneeschuhläufer, Tourengeher und Winterwanderer verbessert und ein Rufbussystem installiert werden, das die Mobilität der Gäste auch in der Nebensaison sicherstellt. In der Ramsau glaubt jedenfalls kaum noch jemand den Versprechungen derer, die den Fremdenverkehr mit Events und Materialschlachten zukunftsfähig machen wollen. Bei der einberufenen Bürgerversammlung „ist kein Einziger aufgestanden, der gesagt hat, dass die Bergsteigerdorf-Idee ein Schmarrn wäre“, erzählt Renate Aschauer, die lebenslustige Schäferin aus dem Wimbachtal. Fragen lässt sich allerdings, ob der Bergsteiger das richtige Symbol für die neue Ausrichtung ist. Renate Aschauer klagt jedenfalls über die High-Tech-Ausrüstung der vermeintlich sanften Natursportler. „Weil die modernen Stirnlampen so hell leuchten wie Autoscheinwerfer, laufen nun immer mehr Wanderer mitten in der Nacht vom Watzmannhaus ins Tal - direkt an meinen Weiden vorbei. Die Hütehunde bellen stundenlang und die Schafe kommen nicht mehr zur Ruhe.“