Lange stand die deutsche Nationalelf für Ergebnisfußball und das niederländische Team für das schöne Spiel. Jetzt ist es umgekehrt.

Sport: Carlos Ubina (cu)

Stuttgart - Noch ist der ultimative Beweis nicht geführt. Noch fehlt das fußballerische Dokument, dass Mesut Özil und Mario Götze nicht nur gemeinsam einlaufen, sondern das Spiel der deutschen Nationalmannschaft auch gemeinsam bereichern können. Joachim Löw beunruhigt das jedoch kaum. Ihn vielleicht sogar am allerwenigsten. Denn der Bundestrainer arbeitet in der Gewissheit, restlos von seinem Kader überzeugt zu sein. Da schadet es zwar nicht, der Öffentlichkeit und der Konkurrenz eine weitere Demonstration der Spielstärke zu liefern, doch zwingend erscheint es Löw zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Das gilt auch im umgekehrten Fall: dem Offenbaren der Abwehrschwächen.

 

Joachim Löws Gelassenheit nach dem leicht chaotischen 3:3 in der Ukraine und vor der Testpartie am Dienstag gegen die Niederlande (20.45 Uhr/ZDF) ist einerseits Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses, andererseits aber auch einer immens gewachsenen Selbstsicherheit.

Der Bundestrainer vertraut einer Mannschaft, die er nahezu komplett nach seinen Idealvorstellungen zusammengestellt und weiterentwickelt hat. Und die Mannschaft vertraut vor allem sich selbst. Dabei verkörpert Mesut Özil (22) nicht mehr nur den seit der WM 2010 viel bewunderten Jugendstil der deutschen Elf. Gemeinsam mit Mario Götze (19) steht der Mittelfeldakteur nun auch für den spielerischen Fortschritt seit dem Turnier in Südafrika. Die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) praktiziert nicht mehr ausschließlich ihren rasanten Umschaltfußball - einen kreativen Konterfußball, der auf die Schwachstellen des Gegners abzielt.

Es schlägt die Stunde der neuen Spielkulturen

Abseits der Begeisterung um das frische Bild der DFB-Auswahl hat Löw eine neue Spielidee vermittelt: Sie entspringt dem Ballbesitz, mit ständig rochierenden Mittelfeldspielern, aber möglichst ohne Räume zu öffnen. Dazu müssen die Verteidiger weit aufrücken und die Abstände zwischen den Spielern und Mannschaftsteilen kurz gehalten werden, um den Gegner früh unter Druck zu setzen.

"Unser Spiel ist schneller, dynamischer, vielleicht auch eleganter geworden", sagt Löw. Es ist aber auch variantenreicher, und es soll noch unberechenbarer werden. Weshalb sich der Bundestrainer sagt: Wenn nicht jetzt, wann dann soll ich meine Feldversuche durchführen. Dreierabwehrkette, Özil/Götze im Zentrum, zwei Spitzen - vieles wird probiert, um dem EM-Titel nächsten Sommer näherzukommen. Vergleiche mit DFB-Mannschaften anderer Epochen hält Löw aber für überzogen. Er warnt gar vor "Größenwahn". Weder an der Europameisterelf von 1972 noch am Weltmeisterteam von 1990 will er die eigene Mannschaft gemessen wissen. Auch wenn beide Formationen der Vergangenheit ebenso mit individueller Klasse bestückt waren und schön spielten.

Das Aufeinandertreffen mit den Holländern in Hamburg ist jedoch nicht nur die sportliche Begegnung zweier alter Rivalen, ebenso schlägt die Stunde der neuen Spielkulturen. Denn so wie sich mit dem deutschen Spiel jetzt Tempo und Technik und weniger Kondition und Kraft verbinden lässt, haben sich die Niederländer einer gegensätzlichen Entwicklung verschrieben. Unter Bert van Marwijk verfolgt die Elftal einen weniger spektakulären Ansatz, dafür einen mehr pragmatischen.

"Der Charakter unseres Spiels hat sich geändert", sagt Khalid Boulahrouz vom VfB Stuttgart, "wir können vom schönen Spiel jetzt auch auf Kampf umschalten." Die Holländer können sogar brachial auftreten, wie sie im verlorenen WM-Finale 2010 gegen Spanien gezeigt haben. Doch seither gab es auch bei Oranje keinen Stillstand. Van Marwijk nähert sich dem Anspruch der Überväter Rinus Michels und Johan Cruyff: mit schönem Fußball zu gewinnen.

Auch bei Oranje gab es keinen Stillstand

"Diese Mentalität kriegt man auch nicht heraus", sagt Boulahrouz. Seit Michels Anfang der 70er die hohe Ajax-Schule in Amsterdam begründete und mit seinem "Totaalvoetbal" das Spiel revolutionierte, wird sie jedem kickenden Kind jenseits der Deiche eingetrichtert. Und wer sich später im Profibereich nicht danach richtet, bekommt es mit der Spieler- und Trainerikone Cruyff zu tun, dem Hüter des schönen Spiels.

Auch van Marwijk hat sich schon viel Kritik gefallen lassen müssen. Doch der Bondscoach ging unbeirrt seinen Weg, immer das 2008 bei Amtsantritt formulierte Ziel vor Augen: Titel holen. Dafür hat der frühere Trainer von Borussia Dortmund zunächst die holländische Doktrin ignoriert und an der Statik des Teams gearbeitet.

Sechs plus vier lautet die Wunschlösung. Sechs mannschaftsdienliche Spieler wie Mark van Bommel und Dirk Kuijt, die ihre Aufgaben anstandslos erfüllen, dazu die großen vier vorne. Wesley Sneijder, Robin van Persie, Arjen Robben und Rafael van der Vaart. Gemein ist ihnen, dass sie im Verbund verteidigen. "Das hat van Marwijk gut reingebracht", sagt Boulahrouz.

Spät entdeckte mannschaftliche Geschlossenheit

Und ähnlich unaufgeregt wie Löw pflanzte van Marwijk der Elftal nach der WM wieder mehr Raffinesse ein. Van der Vaart, eigentlich ein offensiver Freigeist, spielte während der EM-Qualifikation aus dem defensiven Mittelfeld heraus. In einer ähnlichen Rolle wie in der DFB-Mannschaft Toni Kroos, für den Löw den Begriff des "Zwischenspielers" erfunden hat - ein Mann, dessen Wirkungskreis sich offensiv wie defensiv gleichermaßen verteilt.

Den Mehrwert der aktuellen holländischen Mannschaft sieht Boulahrouz aber ohnehin nicht in einem Mehr an Einzelkönnern, sondern im Zusammenhalt. "Unser Teamgeist war bei der WM überragend, das konnte jeder spüren. Und er ist auch jetzt noch voll da", sagt der Abwehrspieler. Allen Egoismen und Eitelkeiten im Kader zum Trotz. Das Ergebnis: nur zwei Niederlagen in den vergangenen 40 Spielen.

Diese spät entdeckte mannschaftliche Geschlossenheit bei den Oranjes klingt dann auch verstärkt nach traditionellen deutschen Tugenden als nach niederländischer Spielkunst. Weshalb sich beim westlichen Nachbarn immer öfter die Frage stellt, ob Deutschland mittlerweile nicht das bessere Holland sei. "Das wollen wir aber gar nicht sein", sagt der Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff, "denn dann werden wir bei den großen Turnieren ja immer nur Zweiter."

Bundestrainer und Bondscoach

Bilanz Joachim Löw: Löw betreut die deutsche Fußball-Nationalmannschaft heute gegen die Niederlande insgesamt zum 75. Mal. Dabei weist der 51-Jährige eine Bilanz von 51 Siegen, 13 Unentschieden und zehn Niederlagen aus. Löws Vertrag beim DFB läuft noch bis 2014.

Bilanz Bert van Marwijk:  Der Niederländer sitzt gegen Deutschland zum 45. Mal auf der Trainerbank der niederländischen Nationalmannschaft. Dabei fuhr die Elftal 31 Siege und zehn Unentschieden ein, dazu gab es drei Niederlagen. Der Vertrag des 59-Jährigen soll bis 2016 verlängert werden.