Deutschland, Polen und der Zweite Weltkrieg Der Schmerz sitzt tief

Die Zeitzeugen Zofia Burchacinska und Jozef Stepien stehen in einer Ruine einer Kirche in der Kleinstadt Wielun. Foto: dpa

Vor 80 Jahren begann die Wehrmacht ihren Vernichtungskrieg. Viele Polen sehen ihr Leid nicht ausreichend gewürdigt. Ein Mahnmal in Berlin soll die Versöhnung voranbringen.

Warschau/Berlin - Das Schicksal Polens treibt Dieter Bingen seit mehr als vier Jahrzehnten um. Als Zeithistoriker hat er den Aufstand der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc verfolgt, die Revolution von 1989 und die Osterweiterung der EU. Er hat erlebt, wie Europa zusammenwuchs. Doch wer Bingen, der seit 20 Jahren das deutsche Polen-Institut in Darmstadt leitet, länger zuhört, kann den Eindruck gewinnen, dass alles ganz anders ist. Dass mitten im Herzen Europas noch immer eine Wunde klafft, weil die Deutschen, 80 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939, zu wenig zur Heilung beitragen.

 

„Es gibt in Deutschland ein hohes Maß an Gleichgültigkeit und Ignoranz unserem direkten Nachbarn Polen gegenüber“, sagt Bingen und stellt sich damit gegen eine große Meinungsmehrheit unter seinen Landsleuten. Umfragen zufolge glauben zwei von drei Deutschen, dass das Leid der Polen im Weltkrieg ausreichend anerkannt wird. Doch genau diese Überzeugung scheint das zentrale Problem zwischen den Nachbarn im Herzen Europas zu sein. Denn in Polen ist es umgekehrt. Nicht einmal jeder Dritte sieht dort das historische Leid der eigenen Nation ausreichend gewürdigt.

Polen stellt Forderungen an Deutschland

„Es gibt in unserem Land ein brennendes Gefühl der Ungerechtigkeit“, sagt Polens Außenminister Jacek Czaputowicz mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die regierende rechtsnationale Partei PiS, der Czaputowicz angehört, verlangt deshalb von Deutschland eine finanzielle Wiedergutmachung. Man habe „nichts bekommen für die unglaublichen Schäden, die bis heute nicht vollständig beseitigt werden konnten“, sagt Parteichef Jaroslaw Kaczynski. PiS-Politiker beziffern die Forderungen auf rund eine Billion Euro. Dafür werde man notfalls „in die Schlacht ziehen“.

Gemeint ist eine politisch-juristische Schlacht, denn die Bundesregierung lehnt Reparationszahlungen unter Verweis auf das Völkerrecht strikt ab. Sie hat dabei starke Argumente auf ihrer Seite. So hat Polen 1953 ausdrücklich auf alle weiteren Kriegsentschädigungen verzichtet. Doch in Wirklichkeit geht es ohnehin nur vordergründig um Geld oder ums Rechthaben. Es geht zuallererst um eben jene brennenden Gefühle mangelnder Anerkennung in Polen und die Gleichgültigkeit vieler Deutscher. Und genau das möchte Dieter Bingen ändern.

Gemeinsam mit der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, ihrem Nachfolger Wolfgang Thierse und weiteren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland hat Bingen vor zwei Jahren eine Initiative zur Errichtung eines Mahnmals für die polnischen Opfer der NS-Besatzung in Berlin ergriffen, die inzwischen den Bundestag erreicht hat. „Wir brauchen dieses Denkmal, um eine Leerstelle der Empathie in der deutschen Erinnerung zu füllen“, sagt Bingen. Die Idee stößt parteiübergreifend auf breite Zustimmung – nur nicht bei der AfD.

Kritik an Denkmalplanungen

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gehört zu den Befürwortern. An diesem Sonntag, dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, wollen er und seine Warschauer Amtskollegin Elzbieta Witek auf dem Askanischen Platz in Berlin Reden halten. Dort soll das Mahnmal seinen Platz finden, direkt vor der Kriegsruine des Anhalter Bahnhofs im Stadtteil Kreuzberg. Wenn es nach den Initiatoren geht. Wenn sich nicht doch noch die Argumente der Kritiker durchsetzen, zu denen auch der Berliner Historiker Stephan Lehnstaedt gehört.

Unter den sechs Millionen NS-Opfern in Polen seien Juden, Litauer, Weißrussen, Deutsche und Ukrainer gewesen, schrieb Lehnstaedt unlängst in der „Jüdischen Allgemeinen“. Der Holocaust-Forscher kritisiert, dass mit der Errichtung eines Polendenkmals eine „Zwangsvergemeinschaftung“ von Opfergruppen stattfinde. Juden, Ukrainer und andere würden zu Polen gemacht. Bingen hingegen ist davon überzeugt, dass auch in einem zusammenwachsenden Europa „die Erinnerung an individuelle nationale Schicksale wichtig ist“. Unter dem Strich steht bei ihm die Idee eines dauerhaften „Zeichens an unsere Nachbarn, dass wir verstanden haben“.

Die Dauer spielt dabei keine unwichtige Rolle. Denn sicher ist, dass der 80. Jahrestag des Kriegsbeginns einer der letzten runden Gedenktage sein wird, an dem Zeitzeugen von dem Grauen berichten können. Zofia Burchacinska zum Beispiel, die 1939 als elfjähriges Mädchen die erste Angriffswelle deutscher Bomber in Wielun erlebte: „Wir flohen in einen Keller voller Leute, voller Weinen, Gebete und Schreien“, erzählt die heute 91-Jährige. Sie sei damals ohne Schuhe durch die Straßen zwischen den brennenden Häusern gelaufen. Ihre Füße seien erst zu Weihnachten wieder verheilt gewesen.

In Wielun starben 1200 Menschen

Rund 1200 Menschen starben am frühen Morgen des 1. September 1939 in Wielun. Als die Bomber abdrehten, lagen drei Viertel der Kleinstadt bei Lodz in Trümmern. Es folgte ein Vernichtungsfeldzug von brachialer Gewalt, ohne jede Rücksicht auf zivile Opfer. Schon im Oktober begann die deutsche Besatzungszeit in Polen, die von massenhaftem Terror, von Versklavung und Vernichtung gekennzeichnet war. Es sei schwer für sie, zu verzeihen, sagt Burchacinska.

Auch Zeitzeuge Wlodzimierz Cieszkowski nimmt das Wort Vergebung im Gespräch nicht in den Mund. Der ehemalige Oberst der polnischen Exilarmee hebt auf die Frage nach den Gefühlen, die er für die Kriegsgegner von einst hegt, nur die Schultern. 96 Jahre alt ist Cieszkowski inzwischen. Im September 1939 schloss er sich als 16-Jähriger einer Sanitätseinheit im Osten Polens an. Als von dort die Sowjetarmee anrückte, floh er ins anfangs noch neutrale Rumänien und schlug sich später bis nach Frankreich durch, wo er 1940 an der Westfront gegen die Deutschen kämpfte.

Er habe „viel Kriegsglück gehabt“, sagt Cieszkowski und berichtet von den ersten Angriffen durch Bomber in apokalyptischen Sprachbildern: „Die Explosionen waren so heftig, dass Steine und Staub wie Schnee vom Himmel fielen.“ In Frankreich half ihm der Zufall, dass er im Süden der Frontlinie kämpfte. Als die Franzosen im Juni 1940 vor der Kapitulation standen, konnte er sich in die neutrale Schweiz retten. „Eine halbe Stunde, nachdem wir abgezogen waren, haben die Deutschen dann unser Quartier bombardiert. Kein Stein blieb davon übrig.“

Trump sagt Besuch bei Gedenkfeier ab

In der Schweiz arbeiteten die geretteten Polen in den folgenden Jahren fast ohne Bezahlung im Bau, in der Landwirtschaft oder der Industrie. Sie bauten etwas auf, während ihr eigenes Land in Schutt und Asche gebombt wurde. Zum deutsch-polnischen Streitthema Reparationen will sich Cieszkowski nicht im Detail äußern. Aber so viel sagt auch er: „Wir wurden nach 1945 ungerecht behandelt.“

An diesem in Polen so weit verbreiteten Gefühl wird vermutlich auch der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nichts ändern, der an diesem Sonntag an den Gedenkfeiern teilnimmt. Außer ihm wird in Warschau noch Bundeskanzlerin Angela Merkel erwartet. US-Präsident Donald Trump hat seine Teilnahme wegen des Hurrikans im Südosten der USA hingegen abgesagt. Für ihn wird Vizepräsident Mike Pence nach Polen reisen.

Der deutsche Bundespräsident Steinmeier wird sich in Wielun und Warschau zweimal an das polnische Volk wenden. Doch Reden an Jahrestagen verhallen meist, früher oder später, so wie auch die letzten noch lebenden Zeitzeugen eher früher als später verstummen werden. Dieter Bingen und seine Mitstreiter wollen mit ihrem Denkmal gegen das Vergessen anarbeiten.

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