Das Programm von Deutschlandradio Kultur ist allgemein anerkannt. Nun stehen Reformen an.

Stuttgart - Wen auch immer man auf den Gängen, in den Redaktionsstuben oder in der Nachrichtenzentrale von Deutschlandradio Kultur (D-Radio Kultur) anspricht, auf eine bestimmte Formulierung reagieren alle ähnlich. Sie ziehen die Augen zu einem Schlitz zusammen. Ihr Lächeln erstarrt. In ihrem Blick mischen sich Empörung und Trotz. Keiner der rund 700 festen und etwa ebenso vielen freien Mitarbeiter dieses Senders mag es sonderlich gerne, wenn man von ihrem Arbeitgeber als dem „kleinen Bruder des Deutschlandfunks“ (DLF) spricht. Einzig der Intendant reagiert ein wenig milder. Das mag daran liegen, dass Willi Steul für beide Sender zuständig ist. Aber auch er, der elf Jahre Landessenderdirektor des SWR war, flüchtet am liebsten in eine Schilderung seiner familiären Verhältnisse. „Sehen Sie, ich habe vier Kinder. Jedes davon ist eigenständig und hat seine eigene Persönlichkeit. Manchmal kommt es zu Eifersüchteleien, aber wir sind trotzdem eine Familie.“ So, meint er, sei das auch mit dem DLF und D-Radio Kultur.

 

Der Berliner Sender blickt auf eine wechselvolle Geschichte. Sein Sitz am Hans-Rosenthal-Platz liegt an der Grenze zwischen den Bezirken Schöneberg und Wilmersdorf. Das fünfgeschossige Gebäude mit der schlichten, schmucklosen Fassade und dem steilen Satteldach war Ende der dreißiger Jahre vom Architekten Walter Borchardt für die Bayrische Stickstoffwerke AG als Verwaltungsgebäude gebaut worden. Doch bald erwies es sich als ungeeignet. Kurz nach dem Krieg suchten die amerikanischen Besatzer nach einem Standort für ihren Rundfunksender, den sie zunächst „Dias“ nannten. Das Akronym stand für „Drahtfunk im amerikanischen Sektor“. Einige Monate später erfolgte die Umbenennung. Von nun an war Rias die „freie Stimme der freien Welt“.

Rias setzte auf eine Mischung aus seriösem Journalismus, einer Brise Propaganda gegen die DDR und einem schmissigen Unterhaltungsprogramm. Hans Rosenthal moderierte aus dem holzvertäfelten Großen Sendesaal Quizsendungen. Am „Musikalischen Sonntagsrätsel“ beteiligten sich Tausende von Hörern – auch aus der DDR. Rias 2 galt als Vorläufer der Popwellen. Aber die Wiedervereinigung brachte das Aus. Der Sender wurde zerpflückt. Das Fernsehprogramm wanderte zur Deutschen Welle nach Köln. Der Hörfunk wurde mit den Resten des DDR-Radios verschmolzen. Dort hatten sich Teile des Propagandasenders Stimme der DDR und des anspruchsvollen Ostberliner Kulturprogramms Radio DDR 2 als „Deutschlandsender Kultur“ über die Wende gerettet.

Rias-Schriftzug auf dem Dach

Auf dem Dach des Berliner Funkhauses befindet sich bis heute der zu einem Dreieck spitz zulaufende Rias-Schriftzug. Er steht, wie das ganze Gebäude, unter Denkmalschutz. Als er vor einiger Zeit abgenommen wurde, um ihn zu restaurieren, kam es zu heftigen Protesten, weil die Berliner fürchteten, er werde verschrottet. So arbeitet das Deutschlandradio Kultur bis heute mit einer historischen Last auf dem Dach.

Die Last der Geschichte galt anfangs auch für die zusammengewürfelten Mitarbeiter. „Die Rias-Leute und die Ostdeutschen standen sich damals sprachlos gegenüber. Man wusste mit dem jeweils anderen nichts anzufangen“, erinnert sich Torsten Enders, der beim DDR-Radio die Kriminalhörspiele betreut hatte. Manchmal konnte man sich noch nicht einmal einigen, wie ein Wort auszusprechen sei. Wenn die Westdeutschen „Genre“ meinten, sagten sie französisch näselnd „Schoh-re“. „Schangre“ sprachen die Ostdeutschen das Wort aus. Die Fremdheit spiegelte sich im Programm wieder. „Bis 14 Uhr klang es wie der alte Rias mit populärer Unterhaltung. Nach 14 Uhr wurden die Hörer plötzlich mit der schweren Kost der Hochkultur konfrontiert“, erzählt Enders.

Es bedurfte mehrerer Programmreformen, bis sich die beiden Lager zusammengerauft hatten. Vermutlich half dabei, dass man sich vom Deutschlandfunk abgrenzen musste. Die Kölner Kollegen machten schon damals ein etabliertes seriöses Programm, das sich auf Politik und Wirtschaft konzentrierte. Das Gleiche nochmals von Berlin aus zu versuchen, ergab wenig Sinn. Hinzu kam, dass der Sender noch als Deutschlandradio Berlin firmierte, was für den Rest der Republik klang wie Lokalfunk. Noch heute habe die Redaktionen, so ein publizistischer Beobachter, eine Berliner Schlagseite bei der Auswahl von Kulturthemen. Immerhin: Auf Kultur konnte man sich einigen. Und so ging das Programm am 7. März 2005 unter dem neuen Namen Deutschlandradio Kultur auf Sendung.

Ein Wille zur Qualität

Die Anfangsprobleme sind überwunden. Heute kann sich Maria Sagenschneider entspannt in ihrem Ledersofa zurücklehnen. Die Leiterin der Abteilung Aktuelle Kultur war Anfang 1991 noch zum alten Rias gekommen und hat die Anfänge des Zusammenwachsens miterlebt. Heute verantwortet sie das Kernstück des Programms von Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton. Es läuft täglich von 9.07 bis 12 Uhr und von 14.07 bis 17 Uhr. Das Radiofeuilleton ist eine Magazinsendung, die – wie Sagenschneider es ausdrückt – „diskursiv angelegt ist, sich als politisch versteht und populäre Kultur genauso ernst nimmt wie Hochkultur“. Die Moderatoren haben einen ganzen Tag Zeit, um sich auf ihre je vier Stunden vormittags oder nachmittags vorzubereiten. Das ist, selbst bei deutschen Kulturwellen, nicht selbstverständlich.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Thomas Wilke hat in einer Studie das Musikprogramm des Senders untersucht. „Verglichen mit anderen Kulturradios wird hier die Musik sehr ernst genommen“, sagt er. Jeden Tag stellt das Radiofeuilleton acht Alben verschiedener Stile von Klassik über Jazz bis Weltmusik vor. Ein Moderator und ein Musikredakteur besprechen die Stücke und ordnen sie ein. Der Forscher lobt den Mut, auch sperrigere Titel ins Programm aufzunehmen. „Daran lässt sich ein Wille zur Qualität erkennen.“ Wilkes Kollegin, die Hamburger Medienwissenschaftlerin Corinna Lüthje, bestätigt die Beobachtung: „Deutschlandradio Kultur ist inzwischen zwar auch formatiert, das heißt, einem gewissen Programmschema unterworfen“, sagt sie, „aber es gehört zu den wenigen Sendern, die man noch als Einschaltradio bezeichnen kann.“ Mit anderen Worten: Die Hörer wählen bestimmte Sendungen bewusst aus, während die meisten Kulturradios der ARD-Anstalten inzwischen davon ausgehen, dass ihr Programm nebenher konsumiert wird. Wobei man auch in Berlin weiß, dass allzu Schwergängiges, vor allem bei der Musik, am Morgen oder Vormittag den Hörern nicht zu vermitteln ist.

Der Redakteur Marcus Gammel muss deshalb jeden Donnerstag bis nach Mitternacht warten, wenn er seine eigene Sendung im Radio hören will. Das sind zum Beispiel Collagen der Geräusche von australischen Überlandbussen auf den Routen der Ureinwohner entlang der Ostküste oder Klänge aus der bretonischen Heimat des Schriftstellers Alain Robbe-Grillet. Nicht unbedingt etwas für den Massengeschmack. Aber die Sendung ist für die überschaubare kleine Szene der Klangkünstler und ihrer Fans eine Institution, denn außerhalb von Festivals stellt sie die einzige Möglichkeit dar, die Kunstwerke öffentlich aufzuführen. „Beim Kulturauftrag des Hörfunks kann es nicht ausschließlich darauf ankommen, ob eine Sendung 10 000, 100 000 oder eine Million Hörer hat“, sagt die Medienexpertin Lüthje.

Im „schalltoten“ Raum

Stolz führt Gammel seine Besucher durch ein Studio mit einem sogenannten „schalltoten Raum“, ein Zimmer, dessen Wände keinen Schall reflektieren. Hier werden Hörspiele aufgenommen oder eben jene Toncollagen, die in Gammels Sendung gespielt werden. Das Studio ist nagelneu. Auch andernorts im Funkhaus wird gehämmert und gemeißelt. Die Arbeiter renovieren die alten Rias-Studios und bauen neue Technik ein. „Ich könnte aus dem Stand heraus ein Billigprogramm produzieren“, sagt der Intendant Willi Steul. „Aber wer braucht das schon? Ich bin davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft Qualitätsprogramme zu schätzen weiß.“

Dennoch steht eine weitere Programmreform an. Man möchte den Sender noch klarer profilieren und deutlicher vom Deutschlandfunk abgrenzen, heißt es. „Besser zugänglich“ wolle man werden und sich „mehr dem Hörer zuwenden“. Was das genau bedeutet, darum wird jedoch noch ein Geheimnis gemacht.