Viele Deutschtürken fühlen sich schlecht behandelt. Auch in der als weltoffen geltenden Region Stuttgart. Davon profitiert einer ganz besonders.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Eda Selcuk hat schon längere Zeit dieses komische Gefühl gehabt, dass irgendetwas nicht mehr stimmt in ihrer Umgebung. Aus diesem Gefühl der 37 Jahre alten Unternehmerin aus Stuttgart wurde spätestens nach einem Gespräch mit einer Bekannten dann Gewissheit. Die ebenfalls türkischstämmige Ärztin eröffnete Eda Selcuk, dass sie und ihre Familie für unbestimmte Zeit in das Land der Großeltern ziehen würden. Als Erklärung hieß es, dass die Kinder so ihre eigene Identität finden könnten. Ein Grund sei aber auch die aktuelle Unklarheit darüber, ob man in Deutschland denn überhaupt noch erwünscht sei.

 

Für Eda Selcuk, die sich seit vielen Jahren in verschiedenen ehrenamtlichen Funktionen für das deutsch-türkische Miteinander starkmacht, eine niederschmetternde Auskunft. Eda Selcuk, die sich gleichermaßen als Deutsche und Türkin fühlt und deshalb ganz selbstverständlich über beide Seiten in der Wir-Form spricht, fragt sich: „Ist Rassismus bei uns gesellschaftsfähig geworden? Und treibt uns das weg aus Deutschland?“

Der Trend ist eindeutig. Seit 1995 sinkt hierzulande die Zahl der türkischstämmigen Menschen. Es gibt viele Rückkehrer, die in Deutschland ausgebildet wurden, aber hier nun viel schlechtere Perspektiven sehen. Sie stoßen dabei offenbar nicht nur beruflich immer wieder an unsichtbare Grenzen, sondern auch in anderen Bereichen. „Mein Bruder sucht als sehr gut integrierter und gut verdienender Mechaniker seit Jahren eine Wohnung und findet keine. Es ist offensichtlich, dass ein türkischer Name ein K.-o.-Kriterium ist“, erzählt Eda Selcuk.

Die politische Lage hat die Situation für die türkischstämmigen Menschen in Deutschland noch einmal verschärft. „Warum haben denn deine Türken in Deutschland alle um Gottes willen den Erdogan gewählt?“ Das bekam Eda Selcuk beim Elternabend am Tag nach der Wahl zu hören. Sie, die ausschließlich den deutschen Pass besitzt und wie rund die Hälfte der insgesamt drei Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln gar nicht wahlberechtigt war, ist auf diese Frage vorbereitet gewesen, hatte sich Zahlen und Fakten herausgesucht.

Die AKP kommt in Stuttgart auf 68,8 Prozent. Warum?

Insgesamt kamen bei der türkischen Präsidentschaftswahl 715 000 Stimmen aus Deutschland, davon entfielen rund 450 000 auf die AKP von Recep Tayyip Erdogan. 265 000 entscheiden sich für andere Parteien. „Erdogan ist hier also keineswegs einstimmig gewählt worden, wie man bei der Betrachtung deutscher Medien vielfach meinen könnte“, sagt Eda Selcuk, die aber auch weiß, dass im Stuttgarter Wahllokal 68,8 Prozent der Stimmen für den Präsidenten und die AKP abgegeben wurden. Woran liegt das?

Wer sich dieser Frage nähern will, ist in der Mauserstraße in Stuttgart-Feuerbach an der richtigen Adresse. Klein-Istanbul wird diese Aneinanderreihung orientalischer Geschäfte genannt. Als Fremdenführer bietet sich Ramazan Altin an. Er betreibt eine Versicherungsagentur und stattet in der Mauserstraße gerade seinen Kunden einen Besuch ab. Hier kann man dann auch erfahren, was die AKP für Deutschtürken in Stuttgart und anderswo wählbar macht. Dass es in der Türkei vor Erdogan so gewesen sei, dass nur die Eliten studieren durften und Frauen mit Kopftuch Menschen zweiter Klasse waren. Dass bezahlbarer Wohnraum, neue Straßen und Krankenhäuser sowie ein funktionierendes Gesundheitssystem entstanden seien. Und dass es keine Stromausfälle und keine Wasserknappheit mehr gebe. Dass nach Militärputschen und ständig wechselnden Regierungen nun Stabilität eingekehrt sei. „Vielen Türken sind Ideologien nicht so wichtig, vielmehr wird der Fokus auf den Nutzen gerichtet“, sagt Ramazan Altin.

Die Verbesserungen, die Deutschtürken beim Besuch in der alten Heimat sehen, finden sie oft wichtiger als Menschenrechtsverstöße, Massenentlassungen politisch unliebsamer Beamter oder die Einschränkung der Pressefreiheit unter Erdogan. „Man darf jetzt aber auch nicht so tun, als wäre die Türkei vor Erdogan ein demokratisches Musterland gewesen. Damals wie heute ist es eine Art eingeschränkte Demokratie“, sagt Eda Selcuk.

So leicht es ihr als Geschäftsfrau fällt, ihren Kunden passende Lösungen anzubieten, so schwer fällt es gerade ihr, ganz persönliche Fragen zu ihrer eigenen Identität zu beantworten. Wenn sie denn überhaupt eindeutig zu beantworten sind. In der apart wirkenden Eda Selcuk lässt sich in der als weltoffenen geltenden Region Stuttgart leicht ein Vorzeigebeispiel für eine gelungene Integration sehen. Doch der Weltoffenheit scheinen Grenzen gesetzt zu sein. „Integration wird in Deutschland von vielen mit Anpassung gleichgesetzt und der Verzicht auf die eigene Kultur und Religion vorausgesetzt. So funktioniert das aber nicht“, sagt Eda Selcuk. Bei Deutschtürken sei es nun mal so, alles doppelt zu haben: zweimal Heimat, zweimal Loyalität, eben zwei Herzen in der Brust. „Eine Liebe zwischen zwei Welten“, nennt es Eda Selcuk. Jan Böhmermanns Schmähgedicht, erzählt sie, hat bei vielen Deutschtürken, egal ob Erdogan-Anhänger oder nicht, Fassungslosigkeit ausgelöst. Dasselbe gilt für die halbherzige, fehlerhafte und intransparente Herangehensweise staatlicher Stellen an die NSU-Morde und für den Umgang mit den deutschen Nationalspielern Mesut Özil und Ilkay Gündogan nach dem Treffen mit dem türkischen Präsidenten in England. „Ein leidiges Thema“, sagt Eda Selcuk und versucht zu erklären, dass die Widmung auf dem Trikot „Für meinen Präsidenten“ im Deutschen unterwürfig klinge, im Türkischen aber die gebräuchliche Höflichkeitsformel sei.

Die neue Moschee in Feuerbach hat eine große Bedeutung

„Eine Bekannte hat es so ausgedrückt: Özil muss sich bekennen – zu Deutschland oder für schuldig, dazwischen gibt es nichts“, erzählt Eda Selcuk. Sie spricht über Enttäuschungen und darüber, was viele Türken denken, wie sie von Deutschen eingeschätzt werden: als dumm, als nicht integrierbar, fundamentalistisch, konservativ. „Und in so einer Situation bekommen sie von Erdogan zu hören, dass sie in der Türkei mit offenen Armen empfangen werden würden“, sagt Eda Selcuk. „Dadurch wird eine Verbindung hergestellt.“

Zurück zu Ramazan Altin auf seinem Rundgang durch die Mauserstraße in Feuerbach. Er geht in Richtung Moschee, vorbei am Brautmodeladen, Supermarkt, Juwelier, Restaurant und an der Großbäckerei. Im Hinterhof dann der mit Teppich ausgelegte Gebetssaal. Das sehr bescheiden wirkende Industriegebäude wird nach vielen Jahren bald durch den stattlichen Neubau einer Moschee ersetzt. Ein ganz wichtiger Schritt, meint Ramazan Altin. „Wir müssen raus aus den alten Garagen und Lagerhallen, wir dürfen uns nicht verstecken, so, als ob man sich für etwas schämen müsste.“ Ein Besucher der Moschee stellt sich dazu und sagt: „Wir müssen uns und die Religion, die zu unserer Tradition gehört, selbstbewusst und offen zeigen dürfen. So können dann auch Vorurteile abgebaut werden.“ Diese Vorurteile und Ängste gegenüber der fremden Religion sind aber gerade in Feuerbach präsent, wie bereits vor der Einreichung des Bauantrages Demonstrationen, Flugblätter und Petitionen gegen den Moscheebau zeigen.

Am Ende der deutsch-türkischen Spurensuche sagt Eda Selcuk: „Wir und unsere Kinder, die hier leben, müssen mehr als eine Heimat haben dürfen, ohne dass dies als illoyal verstanden wird. Das gehört zu der vor 57 Jahren begonnenen Einwanderungsgeschichte und zur Verbundenheit mit den Eltern und Großeltern.“ Und dann sagt Eda Selcuk noch etwas, was entscheidend dazu beitragen könnte, einige Missverständnisse zwischen Deutschen, Deutschtürken und Türken auszuräumen: „Wir müssen jetzt wieder mehr miteinander und weniger übereinander reden.“