Mit engagierten Reden haben Gewerkschaftsvertreter am Dienstagabend in Waiblingen eine Wende zu einer sozialeren Politik und Investitionen in Bildung, Wohnen und Gesundheit gefordert. Die Resonanz darauf ist indes eher überschaubar geblieben.
Vincent absolviert zurzeit eine Ausbildung als Pflegefachkraft an der Rems-Murr-Klinik in Schorndorf. Weil er nicht nur politisch interessiert ist, sondern auch solidarisch gesinnt, ist es für ihn eine Selbstverständlichkeit, sich in einer Gewerkschaft zu engagieren. Doch die, meint der 27-Jährige, sei in den vergangenen Jahren viel zu zurückhaltend gewesen – insbesondere, was Kritik an dem seiner Meinung nach immer unsozialer ausufernden kapitalistischen System angeht. Vielleicht, meint Vincent, habe man einfach „automatisch die Füße stillgehalten, weil die SPD an der Regierung beteiligt war“.
„Fortschritt statt Stillstand“
Das soll sich jetzt offenkundig ändern. Unter dem Motto „Fortschritt statt Stillstand“ fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Baden-Württemberg eine Änderung in der Prioritätensetzung der Politik. „Ein Haushalt der sozialen Kälte und des Kaputtsparens oder eine Blockade sowie das Ausbleiben von wichtigen Reformen und Maßnahmen müssen verhindert werden!“, heißt es in einem Appell der Dachorganisation der organisierten Arbeitnehmervertreter. Massive Investitionen in die Bereiche Soziales, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Verkehr, Energieinfrastruktur, Klimaschutz und den öffentlichen Dienst müssten her, so die Forderung – und eine Kehrtwende beim Hochfahren der Rüstungsausgaben.
Dass die erste Kundgebung zu diesem Thema am Dienstagabend in Waiblingen stattgefunden hat, ist Panagiotis Alopoudis zufolge, dem Vorsitzenden des DGB-Kreisverbands, sicherlich auf ein engagiertes Umfeld dort zurückzuführen, aber durchaus auch, weil es vor Ort Handlungsbedarf gebe. Leider habe ein Kollege des Waiblinger Verpackungsspezialisten Syntegon kurzfristig absagen müssen, erzählt er, denn dort gehe wegen Verlagerungsplänen aktuell die Angst um.
Immer weniger Erzieherinnen für immer mehr Kinder
Dafür haben andere am Alten Postplatz berichtet, wie sich aus persönlicher Sicht fehlende Investitionen und Reformstau bereits jetzt auf ihr Leben, ihre Arbeit und die Menschen um sie herum auswirkten. Vanessa zum Beispiel, die in einer Waiblinger Kita arbeitet, moniert, dass immer weniger Erzieherinnen immer mehr Kinder betreuen müssten. Die durch den Fachkräftemangel geprägte Realität, aber auch schon der theoretisch zugrunde gelegte Personalschlüssel sorgten dafür, dass diese ihrer Aufgabe nicht gerecht werden könnten. Hinzu komme, dass die Bezahlung nicht ausreiche, um ohne Dazutun eines Partners oder von Verwandten ein gutes Leben zu führen.
Zu wenig Investitionen in den Bildungsbereich
Wo aber soll das Geld für Investitionen herkommen? Der Kanzler habe da ja einen Vorschlag gemacht – an dem freilich die Koalition zerbrochen sei, sagt Markus Rapp. Doch neben dem Aussetzen der Schuldenbremse wäre auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine Reform der Erbschaftssteuer eine Möglichkeit, Geld in die staatlichen Kassen zu spülen. „Es gäbe da einige Ansätze“, sagt Rapp.
Die „deutsche Oligarchie“
Denn Geld ist nach Ansicht von Vincent genug vorhanden, schließlich werde die BRD auf Platz zwölf der reichsten Länder geführt. Leider aber fülle es die Konten und Taschen einiger weniger. 80 000 Personen, Vincent bezeichnet sie als die „deutsche Oligarchie“, besäßen laut Erhebungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts gut 20 Prozent des gesamten Nettovermögens Deutschlands – „achtmal so viel wie 42 Millionen Arbeiter/-innen und Arme zusammengenommen“.
Für die Gewerkschafter ist deshalb klar, dass sie für sich und die Belange ihrer Kollegen weiter auf die Straße gehen werden. Die nächste Gelegenheit dazu biete sich bei der Anfang des kommenden Jahres beginnenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst.
Eher geringe Resonanz
Dann muss sich zeigen, wie viele Arbeitnehmer die Gewerkschaften mit ihrer nun deutlich kämpferischeren Haltung erreichen werden. Am Dienstagabend in Waiblingen war die Resonanz trotz engagierter Reden doch eher überschaubar. Nicht viel mehr als 50 Menschen – inklusive der Akteure – waren zur Kundgebung am Alten Postplatz zusammengekommen.