Die Diakoniepfarrerin Karin Ott spricht mit Betroffenen über Verteilungskämpfe am unteren Rand der Gesellschaft. Flüchtlinge spielen dabei kaum eine Rolle.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Im reichen Stuttgart „sind 48 000 Menschen von Armut betroffen“, sagt die Diakoniepfarrerin Karin Ott, „stellen Sie sich vor, nur die Hälfte davon geht auf die Straße“ – für eine andere Politik. Die Armut ist gleichsam Otts Beruf. Sie ist Diakoniepfarrerin und Hauptverantwortliche für die Vesperkirche. An diesem Abend ist sie Gast im Stadtteilhaus Mitte, gekommen, um das derzeit allgegenwärtige Thema zu diskutieren: Ist genug für alle da? Gemeint ist die Furcht, dass Flüchtlinge vom Staat bevorzugt, deshalb die Sozialetats für alle anderen zusammengestrichen werden – seien sie tatsächlich oder nur aus ihrer eigenen Sicht arm. Darüber wird an diesem Abend mit Gewissheit an ungezählten Stammtischen diskutiert und nahezu zeitgleich im Fernsehen, in Sandra Maischbergers Plauderrunde. In der sitzen Experten, aber die sitzen bequem. Was Armut bedeutet, hat keiner von ihnen je erlebt – es sei denn, aus der Ferne.

 

Im Stadtteilhaus diskutieren diejenigen mit, die arm sind. Umso bemerkenswerter, dass eine von ihnen beklagt: „Jetzt wird massenhaft die AfD gewählt, dann haben wir den richtigen Scheiß.“ Niemand spricht einen Satz des Neids. Niemand stellt Angela Merkels mutmaßlich historisches „Wir schaffen das“ in Frage.

Die Verteilungskämpfe sind längst im Gang

Maischbergers Runde kommt zu dem Schluss, dass der ungebremste Zustrom aus dem Ausland Verteilungskämpfe auslösen wird. Otts Runde kommt zu dem Schluss, dass die Verteilungskämpfe seit Jahren im Gang sind. Der bequem sitzende Teil der Gesellschaft nimmt sie nur nicht wahr. Eben deswegen wünscht Ott sich den Aufstand der Armen. „Ich kann nachvollziehen, dass der einzelne Flüchtlinge als Konkurrenz empfindet“, sagt sie, „jeder, der sucht, ist ein Konkurrent“. Das gelte für Arbeitsplätze wie für Wohnungen. Dies sind die einzigen als kritisch zu deutenden Worte des Abends.

Dass die Zahl der Suchenden steigt, steht außer Frage. Asylbewerber müssen nach ihrer Anerkennung alsbald ihre Unterkünfte verlassen. Ihnen müssen die Mitarbeiter in den kirchlichen Beratungsstellen zunächst einmal erklären, wie schwierig es ist, in einer deutschen Großstadt eine Bleibe zu finden.

Diejenigen, die dies schon wissen, gehen zwar auf die Straße, aber nicht, um eine andere Politik zu fordern, sondern um zu betteln oder zu schlafen. „Armut ist viel sichtbarer geworden“, sagt die Pfarrerin, „und sie nimmt in ihrer Dramatik ganz deutlich zu“. Arbeitslos, obdachlos, chancenlos – die Reihenfolge ist gleichgültig. Wer lang genug ohne Arbeit ist, kann Hunderte von Bewerbungen schreiben, wird keine Arbeit mehr bekommen, wird keine Wohnung finden oder wird, spätestens nach einer der schon von Gesetz wegen fälligen Sanierungen, seine Wohnung nicht mehr bezahlen können. So erklärt es Ott.

Die Wohnungsnot beherrscht die Runde

Nicht die Flüchtlinge sind, die Wohnungsnot ist das beherrschende Thema der Runde. 12,35 Euro Miete pro Quadratmeter ist gemäß der jüngsten Erhebung der Durchschnittspreis bei Neuvermietungen. Ott stöbert gelegentlich aus Interesse in den Angeboten. Wohnungen sind sehr wohl im Angebot, das ist ihre Erkenntnis, „aber ich frage mich, wer sich die leisten kann, und mit der Mietobergrenze, die das Jobcenter vorgibt, finde ich nur noch ein Zimmer in einer WG“.

Der Markt wird es nicht richten, das gilt als ausgemacht in dieser Runde. Die Politik müsste eingreifen, aber welche Partei? Zumindest in Stuttgart hat weder das Erstarken der Grünen mit Oberbürgermeister Fritz Kuhn an ihrer Spitze die Wohnungsnot gelindert, noch der Aufstieg von Linken und SÖS. Die Zahl der Sozialwohnungen ist stetig gefallen und fällt weiter.

Ott gibt die Hoffnung trotzdem nicht auf. Zu den Stammgästen der Vesperkirche gehören die Sinti und Roma, die im Schlossgarten kampieren. „Wir haben den politisch Verantwortlichen die Situation gezeigt“, sagt sie, „die Reaktion war: So kann es nicht weitergehen“. Was allerdings den politisch Verantwortlichen schon früher hätte auffallen müssen. Der Schlossgarten ist schon im Sommer vergangenen Jahres zum Campingplatz geworden.