Viele Menschen sorgen sich um ihre Arbeit, Kinder oder Wohnung, sagt der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie. Die Kampagne „Unerhört“ will ihnen eine Stimme geben.

Stuttgart - Mit der Kampagne „Unerhört“ will die Diakonie Menschen mit Menschen ins Gespräch kommen, die das Gefühl haben, nicht mehr gehört zu werden.

 

Herr Lilie, hat die Armut in Deutschland zugenommen?

Es geht vor allem um soziale Teilhabe. Kinder in Hartz-IV-Familien haben deutlich schlechtere Startchancen, sind oft schlechter ernährt. Das Armutsrisiko für Alleinerziehende ist höher als bei anderen Familien, die Zahl der Menschen ohne auskömmliche Rente wächst. Eine bezahlbare Wohnung zu finden, ist inzwischen auch ein Problem für Menschen aus dem Mittelstand.

Welche Einflussmöglichkeiten haben Sie?

Wir weisen darauf hin und übernehmen auch Mitverantwortung, etwa im Wohnungsbau. Wir unterstützen Genossenschaftsmodelle mit einem sozialen Mix, unterschiedlichen Generationen und Barrierefreiheit. Ausgrenzung ist gefährlich, weil sich dann die sozialen Probleme in einzelnen Vierteln häufen. Das ist ein Risiko für den sozialen Frieden und die Demokratie.

Wie lässt sich die Spaltung verhindern?

Jedes Kind muss die Chance haben auf gesunde Ernährung, einen verlässliche Ganztagsbetreuung und kompetente Frühförderung. Benachteiligte Kinder müssen wir zielgerichtet unterstützen, damit sie eine gute Bildung erhalten. Dafür brauchen wir gute Kitas mit ausreichend vielen und gut qualifizierten Erzieherinnen und Erziehern. Statt steuerlicher Entlastung für alle plädieren wir für eine Grundsicherung für jedes Kind.

Grundsicherung statt Kindergeld?

Wir haben bei den Leistungen für Kinder und Familien inzwischen einen Dschungel wie im Steuerrecht. Diese wirken vor allem im Mittelstand viel Gutes. Bei denen, die sie dringend bräuchten, kommen die Vergünstigungen hingegen nicht an, weil sie mit Hartz IV etc. verrechnet werden.

Hat die SPD, die seit Jahren das Sozialressort führt, versagt?

Nein, wir haben in Deutschland ein gutes soziales Netz, um das uns viele beneiden. Aber es gibt auch strukturelle Ungerechtigkeiten, über die man diskutieren muss – nicht nur mit der SPD.

Ist die Unerhört-Kampagne auch eine Mittel gegen zunehmenden Populismus?

Unser Motto ist, denen zuzuhören, die bisher unerhört sind. In den vernachlässigten Stadtteilen überall im Land fühlen sich viele alleingelassen, weil sich niemand um Müll, Kriminalität, Drogenhandel oder Prostitution wirklich kümmert. Johannes Rau hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Kommune, das Wohnquartier, der Stadtteil oder das Dorf ,der Ernstfall der Demokratie’ sind. Politik ist gut beraten, in den Kommunen wieder verstärkt Verantwortung zu übernehmen, mit den Menschen zu reden und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Populisten profitieren vor allem vom Thema Flüchtlinge. Hat man sich zu wenig um andere bedürftige Gruppen gekümmert?

Trotz der Flüchtlinge hat die Diakonie keinen einzigen anderen vernachlässigt. Die Menschen werden weiter gepflegt, die Kindergärten sind in Betrieb, in Beratungsstellen wird beraten. Menschengruppen gegeneinander auszuspielen ist ein übles Spiel.

Viele Familien kommen finanziell kaum zurecht, erhalten aber keine Vergünstigungen, weil ihr Einkommen knapp über der Bemessungsgrenze liegt….

Um diese Gruppe müssen wir uns kümmern. Reden müssen wir aber auch mit denen, die ein sehr gutes Einkommen haben, sich jedoch aufregen, wenn für Ärmere der Kindergartenbesuch frei ist. Manche wollen einfach, dass alles bleibt, wie es ist, sich nichts in ihrer Umgebung ändert. In einer Welt, in der 70 Millionen Menschen auf der Flucht sind, müssen Europa und Deutschland aber auch einen Beitrag leisten. Im Übrigen können wir unseren Fachkräftebedarf nur mit einem vernünftigen Einwanderungsgesetz decken.

Brauchen wir auch eine andere Steuerpolitik?

In Deutschland wird sehr viel Geld vererbt – darüber sollte sich auch die Allgemeinheit ein bisschen mitfreuen können. Wir brauchen noch einmal eine Debatte über die Erbschaftssteuer. Sozialer Ausgleich ist keine Neiddebatte. Ein Gemeinwesen lebt davon, dass wir einen Ausgleich organisieren – das kann man auch an der Geschichte des Christentums und des Judentums studieren.

Ein großes Thema für die Diakonie ist der Fachkräftemangel in der Pflege. Wie lässt sich die Attraktivität der Pflege steigern?

Ein paar mehr Stellen reichen nicht, wir brauchen eine neue Systematik in der Pflegeversicherung und eine bessere Bezahlung. Wir zahlen Pflegekräften 20 bis 25 Prozent über dem Durchschnitt. Das darf aber nicht auf die zu Pflegenden abgewälzt werden. Flächentarife in den Ländern und auf Bundesebene müssten Allgemeinverbindlichkeit, Refinanzierung der Gehälter und den kirchlichen Weg der Tariffindung garantieren.

Aus der CDU kommt der Vorschlag, eine Dienstpflicht einzuführen. Sehen Sie darin eine Lösung?

Ich begrüße diese Diskussion. In einem immer vielfältiger und pluraler werdenden Deutschland kann ein soziales Jahr ein kaum zu überschätzender Beitrag zum sozialen Zusammenhalt und eine wichtige Erfahrung sein. Ich setze allerdings auf attraktivere und mehr Freiwilligendienste. Wer sich engagiert, sollte dafür auch besondere Vergünstigungen genießen – etwa beim Zugang zu Studium oder bei der Ausbildungsförderung.

Neben der Unerhört-Kampagne nimmt die „Aufstehen“-Kampagne der Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht Fahrt auf. Die Schnittmenge dürfte ziemlich groß sein. Begrüßen Sie die Initiative?

Wir wollen nicht über Menschen reden, sondern mit ihnen ins Gespräch kommen. Für den sozialen Zusammenhalt braucht es das Gefühl und die Erfahrung, gehört zu werden und dazuzugehören. Das ist etwas anderes als das, was Herr Lafontaine und Frau Wagenknecht starten. Ihre Forderung, die Grenzen zuzumachen, hat teilweise populistische Züge. Das ist nur eine andere Spielart von dem, was Bundesinnenminister Seehofer gerade angesichts der anstehenden Wahlen in Bayern betreibt. Dass das der richtige Weg zur Erneuerung und Stärkung des Parteiensystems ist, bezweifle ich.