Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, hat ein Altbundeskanzler mal gesagt. Abermal ehrlich: lieber einige Visionen als gar keine Vorstellung von der Zukunft. Beispiele gefällig?

 

Hauptbahnhof

Da wäre zunächst uns aller Lieblingsthema Stuttgart 21. Es schien 1994 eine kongeniale Idee, endlich den gordischen Bahnknoten Stuttgart zu lösen: Hauptbahnhof unter die Erde, die Anschlüsse ans Schnellbahnnetz über kilometerlange Tunnels sicherstellen, den Gleisteppich im Talkessel für den Bau neuer Quartiere und die Erweiterung des Parks nutzen. Schöne neue Welt? In allen politischen Gremien hat es für das über die Jahre immer teurer gewordene Projekt (aktuell 4,1 Milliarden Euro) stets satte Mehrheiten gegeben. Nur leider hat ein nicht unerheblicher Teil des Volkes den Sinn der Maßnahme nie verstanden. Allzu groß ist die Sorge vor einer Operation am offenen Herzen der Stadt. Aber Politiker und Manager ficht das nicht an: Im Februar sollen die Bagger anrücken.

Killesberg

Ganze Arbeit geleistet haben die Maschinen droben auf dem Killesberg. Dort ist die alte Messe dem Erdboden gleichgemacht worden, was wehmütige Gefühle geweckt hat. Denn der Killesberg war nie nur Ausstellungswelt, sondern immer auch ein Erlebnisort, vor allem in den 1950er und 60er Jahren. Legendär etwa der Auftritt von Archie Moore, „the ageless warrior“, der noch mit 49 Jahren Box-Weltmeister war. Oder auch 1970 das Gastspiel der damals skandalumwobenen Rolling Stones. Solche Erinnerungen sind nötig, weil es mit der Neubebauung hapert. Unter anderem soll dort ein Modezentrum entstehen, dessen Konzept wir momentan jedoch nicht mehr erinnern, weil es sich schon so oft geändert hat.

Kunstmuseum

Doch, klar: Stuttgart hat weit mehr Vorzeigenswertes als Karosserien aller Markenarten und Altersklassen. Im März 2005 wurden viele der bis dahin unsichtbaren Schätze gehoben und den Bürgern im Herzen der Stadt gezeigt. Auf dem Schlossplatz öffnete das Kunstmuseum – und es geschah ein kleines Kunstwunder: Am ersten Tag standen die Menschen in langen Schlangen vor dem Eingang. Inzwischen hat man sich fast daran gewöhnt, dass man mal eben in der City Kunst genießen kann: Otto Dix und Adolf Hölzel, Willi Baumeister und Otto Herbert Hajek ...

Partymeile

Mal ehrlich: Stuttgart kam früher jenseits des Kessels ziemlich tantig rüber. Die alte Dame schien berechenbar wie ein Bausparvertrag und so aufregend wie ein Rosamunde-Pilcher- Film am Sonntagabend. Dann kamen die Nullerjahre und eine gewaltige Spaßwelle schwappte über die Stadt hinweg. Fast im Monatstakt öffneten auf einer bis dahin tristen Durchgangsstraße neue Clubs. Die Verhältnisse gerieten ins Tanzen.

Theo-Heuss-Straße

Man liebt sie oder man hasst sie: Nirgendwo sonst ist die Nacht so laut und so wuselig wie auf der „Theo“. Ein Nachtclub reiht sich an den anderen, alles begann rund um die Jahrtausendwende mit dem Barcode, der Suite 212 und dem Schaufenster Mitte. Inzwischen tobt auf der Theodor-Heuss-Straße ein Großteil der 18- bis 25-Jährigen. Die einen sind genervt vom „Schwaben-Ballermann“, die anderen stört das nicht. Sie tanzen auf der Partymeile der Stadt. Inzwischen fragen sich viele: wann zieht der Szenerummel endlich weiter?

Stadtstrände

Irgendwann war halb Deutschland im Sommer eine Sandburg. Die Gastronomen bestellten Strandkörbe und Liegen, eröffneten Cocktailbars und ließen knackige Beachvolleyballer antreten. Fertig war der Stadtstrand – und Stuttgart spielte munter im Trendsport mit. Am Cannstatter Neckarufer eröffnete ein Stadtstrand, auf dem sonst so öden obersten Parkdeck des Kaufhofs konnte man über die halbe Stadt runterblicken. Sommer für Sommer ziehen inzwischen kübelweise Palmen in die Stadt ein – dorthin,wo sich die Straßencafés aufgemacht haben, ein wenig Gardasee zuspielen. Die halbe Stadt sitzt inzwischen nach Feierabend draußen, beispielsweise am Hans-im-Glück-Brunnen, der schwer in Mode gekommen ist.

Nordbahnhof

Doch, doch: am Nordbahnhof weht ein Hauch von Berlin aus den 80er Jahren. Auf dem Weg zu den Wagenhallen waten die Besucher durch Matsch, junge Künstler wohnen in ausrangierten Waggons. Man blickt auf Schrottplatzgebirge, auf mitunter sperrige Kunst. Dazu tanzt man zu schmachtenden Tangoklängen oder wildem Balkansound. Hier ist Stuttgart jung, kreativ und unberechenbar.

Sportstätten

Wo bitteschön ist im vergangenen Jahrzehnt wirklich Stadtgeschichte geschrieben worden? Richtig, im Stadion und auf dem Schlossplatz während der WM 2006. Die Stadt wurde von der internationalen Presse mit Lob überhäuft: „ Stuttgart, die lässige Metropole.“ Oder: „Der Stern des Südens.“ Oder: „Stuttgart – Ländle reloaded.“ Auch die Stadien (heute: Arenen) der Stadt wurden kräftig reloaded.

Mercedes-Benz-Arena

Wer den guten alten Zeiten hinterher trauert, sollte sich erinnern, wie es früher im Neckarstadion bei einem Heimspiel des VfB war: Bei Schmuddelwetter weichten die Fans auf den billigen Plätzen im Regen auf, die Toiletten konnte man nur betreten, wenn man starke Nerven und keinen Geruchssinn hatte. Und von der Stadionwurst wollen wir lieber erst gar nicht reden. Die Konstante an der Mercedesstraße ist die Tatsache, dass sich dauernd alles ändert – nicht nur das Schicksal des VfB. Inzwischen heißt die bereits für die WM modernisierte Schüssel Mercedes-Benz- Arena. Diesmal wird sie für rund 60Millionen Euro in ein Fußballstadion umgewandelt und der Rasen tiefer gelegt. Die Laufbahn ist Geschichte, genau wie die Leichtathletik- Tradition. Der VfB wird Alleinherrscher. Im Sommer 2011 soll das Stadion fertig sein. Alles wird schöner. Obwohl: bei der Stadionwurst haben wir Zweifel.

Porsche-Arena

Seit dem Mai 2006 hat die Schleyerhalle eine kleine Schwester namens Porsche- Arena. 42 Millionen Euro investierte die Stadt in den Neubau und in die Sanierung der in den 80er Jahren gebauten Schleyerhalle, die in die Jahre gekommen war. Eigentlich sollten hier Sportvereine aus der Region eine neue Heimat finden – doch meist geben heute die Konzertveranstalter in der Halle den Ton an.

Gazi-Stadion

Vielleicht muss es einfach mal erwähnt werden, weil es aus heutiger Sicht so unglaublich klingt: Im Stuttgarter Stadtteil Degerloch spielte einmal eine Fußball-Bundesligamannschaft namens Stuttgarter Kickers. Heute ziert die Mannschaft das Mittelfeld der Regionalliga in einem Stadion, das nach einem Joghurthersteller benannt ist. Schöner Quark!

Stuttgarter Großprojekte

Eine Stammeseigenschaft der Schwaben ist das Bruddeln. Allerdings ist der Hang zur Grobheit gepaart mit eine man sich durchaus versöhnlichen Charakter. Dann gilt häufig das Motto: „Net gschompfa isch gnung globt“. Was das mit Stuttgarter Großprojekten zu tun hat?

Neue Messe

Nun, erinnert sei an die neue Messe am Flughafen. Die Landesregierung hat den 807 Millionen Euro teuren Bau durch ein eigens erlassenes Gesetz erst möglich gemacht, was vor allem bei der Nachbargemeinde Leinfelden-Echterdingen wenig Begeisterung ausgelöst hat. Anders als bei dem kleinen gallischen Dorf, das der Übermacht der Römer bis heute trotzt, hat die Filderkommune aber irgendwann vor der politischen Übermacht und den juristischen Fakten kapituliert. Und längst auch Frieden geschlossen mit dem neuen Nachbarn. Der Ort nennt sich nun: Messestadt.

Neckarpark

Haben Sie gewusst, dass Europas größte Freizeitanlage vom Mercedes-Benz-Museum über die Schleyerhalle und den Cannstatter Wasen bis zum Naturkundemuseum reicht? All diese Einrichtungen und manche mehr verbergen sich hinter dem Kunstbegriff Neckarpark. Geht’s nach dem Willen von Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, sind die Potenziale der Vergnügungsmeile noch nicht ausgereizt: ein Science Center fehlt, das im Gemeinderat umstritten ist und wegen der momentan knappen Kassen auf die lange Bank geschoben wurde. Trost dabei: Gut Ding will eben Weile haben – sowie im Falle der ...

Königstraße

Über mehrere Jahre ist Stuttgarts Haupteinkaufsmeile schwer aufgehübscht worden. Das hat Passanten beim Marsch über die Dauerbaustelle bisweilen schier in den Wahnsinngetrieben. Doch der Ärger ist verraucht. Heute erscheint die 1,2 Kilometer lange Fußgängerzone, die an Spitzentagen bis zu 100.000 Passanten passieren, in neuem Glanz und schöner als die Düsseldorfer Kö – was auch etlichen neuen Bauten zu verdanken ist. Dazu zählen unter anderem die Königsbau-Passagen mit ihrer markanten Glaskuppel. Der Slogan zur Eröffnung hat übrigens gepasst zur Entwicklung der ganzen Stadt in der jüngsten Dekade: „Stuttgart wird geiler.“ Na, bitte!

Visionen für Stuttgart

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, hat ein Altbundeskanzler mal gesagt. Abermal ehrlich: lieber einige Visionen als gar keine Vorstellung von der Zukunft. Beispiele gefällig?

Hauptbahnhof

Da wäre zunächst uns aller Lieblingsthema Stuttgart 21. Es schien 1994 eine kongeniale Idee, endlich den gordischen Bahnknoten Stuttgart zu lösen: Hauptbahnhof unter die Erde, die Anschlüsse ans Schnellbahnnetz über kilometerlange Tunnels sicherstellen, den Gleisteppich im Talkessel für den Bau neuer Quartiere und die Erweiterung des Parks nutzen. Schöne neue Welt? In allen politischen Gremien hat es für das über die Jahre immer teurer gewordene Projekt (aktuell 4,1 Milliarden Euro) stets satte Mehrheiten gegeben. Nur leider hat ein nicht unerheblicher Teil des Volkes den Sinn der Maßnahme nie verstanden. Allzu groß ist die Sorge vor einer Operation am offenen Herzen der Stadt. Aber Politiker und Manager ficht das nicht an: Im Februar sollen die Bagger anrücken.

Killesberg

Ganze Arbeit geleistet haben die Maschinen droben auf dem Killesberg. Dort ist die alte Messe dem Erdboden gleichgemacht worden, was wehmütige Gefühle geweckt hat. Denn der Killesberg war nie nur Ausstellungswelt, sondern immer auch ein Erlebnisort, vor allem in den 1950er und 60er Jahren. Legendär etwa der Auftritt von Archie Moore, „the ageless warrior“, der noch mit 49 Jahren Box-Weltmeister war. Oder auch 1970 das Gastspiel der damals skandalumwobenen Rolling Stones. Solche Erinnerungen sind nötig, weil es mit der Neubebauung hapert. Unter anderem soll dort ein Modezentrum entstehen, dessen Konzept wir momentan jedoch nicht mehr erinnern, weil es sich schon so oft geändert hat.

Ministeriumsneubauten

Zurück in die City. Dort will das Land seine Ministerien besser bündeln. Ein zentraler Baustein: die Arrondierung des Viertels zwischen Karlsplatz und Marktplatz, wo zurzeit das Innenministerium residiert. „Da Vinci“ heißt der Code, den die Projektpartner – Land und Firma Breuninger – ausbaldowert haben. „Da Vinci“ steht für eine moderne Einkaufswelt, Büros und ein Nobelhotel und ist auch (noch) eine Vision. Zum Arzt muss deshalb aber niemand.

Dieser Text stammt aus der Silvesterbeilage der Stuttgarter Zeitung im Jahr 2009.