Angela Böbel ist 57 Jahre alt, Erzieherin, Mutter und Großmutter. Ihr Alltag in Kirchheim unter Teck füllt sie eigentlich voll aus. Dennoch besteigt sie einen 7000er-Berg nach dem anderen und begibt sich freiwillig in Lebensgefahr.
Kirchheim/Teck -
Als Angela Böbel um kurz nach sechs Uhr am Morgen aus ihrem kleinen Zelt krabbelt, ahnt sie nicht, dass ihre Reise bald ein jähes Ende finden wird. Eisiger Wind peitscht ihr ins Gesicht, Schnee knirscht unter ihren schweren Stiefeln. Es dauert lange, bis die Sonne über die Gebirgskette klettert, noch herrschen minus 20 Grad. Sie schultert den Rucksack und zieht den Reißverschluss ihrer Daunenjacke hoch bis zum Kinn. Vor fast einem Monat ist sie aufgebrochen, um in Nepal den 8485 Meter hohen Makalu zu bezwingen, den fünfhöchsten Berg der Welt. An diesem Tag will sie über den Makalu-La- Pass bis zum nächsthöheren Lager 3 vordringen. Doch so weit schafft sie es nicht.
Sieben Stunden ist sie über steile Felsen und Eis geklettert, als es stark zu schneien beginnt. Sie schafft es auf 7200 Meter – dann muss sie umkehren. Für einen zweiten Anlauf am nächsten Tag fehlt ihr die Kraft. Die Luft ist dünn in diesen Höhen, sie steigt weiter ab ins Basislager, um sich zu regenerieren. Sie wird dem Gipfel nie wieder so nahe kommen wie an jenem Morgen. Ein Unglück zerschlägt alle Pläne.
Lange hat Angela Böbel die Fotos dieser letzten Expedition nicht angesehen, nicht die Bilder von den tanzenden Sherpas, nicht die vom Basislager mit seinen gelben Zelten, nicht die vom Hubschrauber, der die zwei Leichen aufsammelte. Sie sitzt ein halbes Jahr später in ihrem Wohnzimmer in Kirchheim unter Teck. Vor ihr auf dem Holztisch steht eine große Tasse, randvoll gefüllt mit schwarzem Kaffee. Die braunen Haare reichen ihr bis knapp über die Ohren, dunkle Augen schauen durch Brillengläser. Sie ist jetzt 57 Jahre alt, schlank und fitter als die meisten, die halb so alt sind wie sie. Neben ihr liegen zwei Ordner, gefüllt mit Routen, Flugdaten, Rechnungen. Sie erzählen in nüchternen Zahlen von Reisen nach Pakistan, Kirgisistan, nach Peru und in den Iran. Erst vor sechs Jahren hat sie nach langer Pause wieder mit dem Extrembergsteigen begonnen. Es ist ein Spagat zwischen Familienleben und Hochrisikosport.
„Wenn ich in den Bergen bin, geht es mir am besten“
Sie hat drei Kinder großgezogen, betreut als Erzieherin Schüler nach dem Unterricht, engagiert sich ehrenamtlich für benachteiligte Jugendliche. Eigentlich hätte sie auch ohne ihr Hobby genug zu tun. Aber: „Wenn ich in den Bergen bin, geht es mir am besten.“ Das merkt man, wenn sie von ihren Expeditionen erzählt. Sie schwärmt von glitzernden Schneefeldern am Tag und einem atemberaubenden Sternenhimmel in der Nacht. „Es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl, dort oben zu stehen. Danach kann man süchtig werden.“
Sie treibt viel Sport. Am liebsten rennt sie den Albtrauf hinauf und hinunter, um auf 1000 Höhenmeter zu kommen. In ihrem Flur hängen bündelweise Medaillen: Swiss Alpine Marathon, Montafon-Arlberg-Marathon, Gebirgsmarathon Immenstadt, Silvrettarun. Mehr als einmal hat sie in ihrer Altersklasse Gold geholt.
Ihre Eltern hatten sie schon als kleines Mädchen mit in die Berge genommen. Mit drei Jahren sauste sie auf Skiern die Hänge hinunter. Als sie 20 wurde, begann sie zu klettern. Bald fand sie keine Freundin mehr, die bereit war, sie auf den immer schwierigeren Touren zu sichern. Mit 23 träumte sie davon, ihren ersten hohen Gipfel zu erklimmen, den Alpamayo in Peru, fast 6000 Meter hoch. Er gilt als schönster Berg der Welt. Die Eltern verboten es. Sie wollte trotzdem gehen, doch ihr Arbeitgeber genehmigte den langen Urlaub nicht. Das Wetter ist in diesen Höhenlagen unberechenbar. Manchmal kampieren Bergsteiger tagelang unterhalb des Gipfels, um eine bessere Witterung abzuwarten. Über einen Monat plant sie für eine Tour ein.
In der Höhe zählt der Wille
Ein Jahr später, 1983, hatte Angela Böbel mehr Glück. Als einzige Frau schloss sie sich einer Gruppe mit 13 Männern an, um auf den Baruntse, 7129 Meter, im Himalaja zu steigen. „Frauen sind mental sehr stark“, sagt sie. In der Höhe zählten nicht nur Kraft und Fitness, sondern vor allem ob man den Willen habe durchzuhalten.
Sie verdiente sich schnell den Respekt ihrer Begleiter – und gewann das Herz eines Bergsteigers, Fritz Böbel. Den Gipfel erreichten sie damals wegen einer logistischen Panne nicht. Aber das junge Glück hielt. Zwei Jahre später gab Angela ihrem Fritz das Jawort.
Die Hochzeitsreise führte sie nach Argentinien und auf den höchsten Berg Südamerikas, den Aconcagua, 6962 Meter. Diesmal standen beide auf dem Gipfel. Es war Angela Böbels erster fast 7000er und für viele Jahre ihr letzter. Sie hatte sich für eine Familie entschieden.
Trotzdem verbrachte sie so viel Zeit wie möglich in den Bergen. „Ein Viertausender im Jahr musste sein.“ Die drei Kinder schlossen ihre Ausbildungen ab, gründeten selbst Familien. Angela Böbel wurde 50 und spürte: jetzt oder nie. Ihr Mann fühlte sich nicht mehr fit genug, um sie zu begleiten. Ihre Töchter fragten: Muss das wirklich sein? Es musste.
Sie kletterte auf den Kun in Indien, 7077 Meter, kämpfte mit zwei Gipfelversuchen am Gasherbrum II in Pakistan, 8034 Meter, und scheiterte am Khan Tengri in Kirgisistan, 7010 Meter. Sie hakte ihren langen Wunsch, den Alpamayo, ab und stieg mit Skiern auf den 5604 Meter hohen Damavand im Iran. „Dort oben ist man in einer anderen Welt, ganz auf das Wesentliche konzentriert.“ Das hat seinen Preis.
Ihre kleine Statur ist ein Handicap
In einem nicht mehr genutzten Kinderzimmer lagert ihre Ausrüstung: Daunenanzug, Expeditionsstiefel, ein Schlafsack, der auch bei minus 35 Grad warm hält, Eispickel, Steigeisen, Klettergurt, Doppelseil, Helm, ein Zelt, Gaskocher, Töpfe. Alles zusammengenommen im Wert von mehr als 5000 Euro. Um sich ihr Hobby leisten zu können, muss sie viel selbst organisieren. Der Mount Everest wird auch deshalb unerreichbar bleiben, weil kommerzielle Expeditionen zwischen 30 000 und 75 000 Euro kosten. Dazu kommt, dass Angela Böbel für jede Tour unbezahlten Urlaub nehmen muss. „Ohne den guten Willen der Kolleginnen und meines Chefs wäre das gar nicht möglich.“
Und keine Expedition ist frei von Gefahren. Einmal warnte sie ein Bergführer beim Aufbruch: „Es kann sein, dass ihr dort oben über eine tote Frau stolpert.“ Die Iranerin war erfroren, ihre Leiche konnte noch nicht geborgen werden. „Auf hohen Bergen wird man gezwungen, ein größeres Risiko einzugehen“, sagt Angela Böbel. „Angst habe ich nur sehr selten.“
Ihre kleine Statur von 1,57 Metern ist ein Handicap. An Ausrüstung muss sie genauso viel schleppen wie Männer, die doppelt so schwer sind wie sie. Es gibt anstrengende Passagen, auf denen sie alle paar Meter nach Luft ringt und sich fragt, ob sie es bis zum nächsten Lager schafft. Nicht viele Frauen in ihrem Alter tun sich solche Strapazen an. „Es gab eine Phase, in der ich dachte, zu sterben sei in Ordnung, ich durfte schon viel Schönes im Leben erfahren.“ Inzwischen ist sie Großmutter geworden, möchte für ihre Enkelkinder da sein.
Jeder Aufbruch ist ein Abschied
Jeder Aufbruch von zu Hause ist ein stiller Abschied. Die Familie spricht nicht über die Lebensgefahr, in die sich die Mutter und Ehefrau immer wieder begibt. Es ist mehr ein Abfinden als ein Akzeptieren. Fritz Böbel, ihr Mann, sagt: „Es ist nicht nur die lange Vorbereitungszeit und die Abwesenheit. Sie braucht nach ihrer Rückkehr Wochen, bis sie gedanklich wieder richtig bei uns angekommen ist.“
Besonders die letzte Expedition zum Makalu nach Nepal lässt Angela Böbel nicht los. Von Anfang an, sagt sie, hätte mit dieser Reise etwas nicht gestimmt. Ihr Vater hatte sich große Sorgen gemacht und ihr vorsorglich Sauerstoffflaschen spendiert. „Bevor du mir da oben umkommst“, seien seine Worte gewesen. Normalerweise verzichtet Angela Böbel darauf. Schon auf dem Weg zum Basislager merkte sie, der deutsche Bergsteigerkollege, mit dem sie aufgebrochen war, würde es nicht bis zum Gipfel schaffen. Er flog zurück. Sie tat sich mit einem Schweizer zusammen. Für sie alleine war der Sherpa, den sie angeheuert hatten, zu teuer. Der etwa 30 Jahre alte Mann, der sich um ihrer beiden Gepäck kümmerte, wuchs ihr schnell ans Herz.
Einige Tage nachdem sie wegen des starken Schneefalls umkehren musste, schickte sie den Träger mit einem Zelt vor ins Lager 3. Der junge Mann schloss sich einem älteren Sherpa an. Sie selbst war noch im Basislager, als sie am nächsten Nachmittag ein Funkspruch erreichte: Die Männer seien tot. Bergsteiger hatten das eingeschneite Zelt der beiden entdeckt und sich gewundert, warum nirgends Fußspuren zu sehen waren, erfuhr Angela Böbel später. Der ältere Sherpa hatte wohl versucht, mit dem Gaskocher Schnee für Teewasser zu schmelzen – eine übliche Methode in den Bergen. Doch der Schnee rings ums Zelt lag zu dicht, er kappte die Frischluftzufuhr ins Innere. Die Männer starben an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Ihr Träger lag noch im Schlafsack, als man sie fand.
Ihr nächstes Ziel ist der 7500 Meter hohe Mustagh Ata in China
Für Angela Böbel war die Reise nach dieser Nachricht zu Ende. Sie wollte nicht mehr auf den Gipfel, der einen Mann, Vater eines kleinen Kindes, das Leben gekostet hatte. „Das Herz hat mir geblutet, aber ich hätte es nicht genießen können, das Opfer war zu groß.“ Sie harrte aus, bis die Leichen geborgen werden konnten. Unten suchte sie die Frau des Sherpas auf, versicherte sich, dass die Familie versorgt wurde. Sie war schon wieder in Deutschland, als sie vom Schicksal ihres Schweizer Begleiters erfuhr. Er hatte noch einen Gipfelversuch unternommen und dabei alle Finger verloren. Die Hände waren ihm erfroren.
Seit dieser letzten Expedition trägt Angela Böbel ein rotes Band um ihr rechtes Handgelenk. Ein Lama hat es geweiht, es soll Glück bringen. Sie wird es bald brauchen. Die Erlebnisse in Nepal haben sie geprägt, aber nicht eingeschüchtert. In ihrem Ordner stapeln sich Pläne für die nächste Reise. Im Juni soll es nach China gehen, auf den Mustagh Ata, 7546 Meter.