Warum hat die AfD bei der Landtagswahl ausgerechnet in der 120 000-Einwohner-Stadt Pforzheim abgeräumt? Besuche bei Alexander Kunick, Pfarrer in einer von Aussiedlern geprägten Wohnsiedlung, und Bernd Grimmer, der ein Direktmandat für die Partei gewonnen hat.

Pforzheim - Dass er vor dem Stuttgarter Landtag einmal nicht nur als Besucher, sondern als künftiges Mitglied stehen würde, hätte sich Bernd Grimmer vor einigen Monaten selbst kaum vorstellen können. Der 65-Jährige aus Pforzheim ist einer von zwei AfD-Politikern, die ein Direktmandat für das baden-württembergische Parlament errungen haben. Im Stadtteil Heidach hat seine Partei sogar 44 Prozent der Stimmen erzielt, ein Rekord. Die 120 000-Einwohner-Stadt ist eine Hochburg der AfD. Sie knüpfte damit an eine lange Tradition rechtsextremer Parteien in Pforzheim an: In den 60er Jahren kam die NPD, in den 90ern kamen die Republikaner auf ähnliche gute Ergebnisse.

 

Seinen Erfolg in der Schmuckstadt bei der Wahl am 13. März dieses Jahres hat Bernd Grimmer zu einem guten Teil den Russlanddeutschen zu verdanken, die 20 Prozent der Bürgerschaft stellen. Was wiederum – zumindest teilweise – damit zu erklären ist, dass der Politiker noch nie einen Hehl aus seiner tiefen Sympathie gemacht hat, die er für Russland hegt.

Grimmers politische Biografie weist viele Brüche auf, doch es gibt eine Konstante: Er kämpft für die außenpolitische Neutralität. Bereits in den 80er Jahren engagierte er sich bei der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), die, wie er erzählt, „ein wiedervereinigtes, blockfreies Deutschland wollte“. Diese Gruppierung um den konservativen Ökologen Herbert Gruhl schloss sich den neu gegründeten Grünen an – so auch Grimmer. 1984 wurde er für die Ökopartei in den Pforzheimer Gemeinderat gewählt, als leitender Angestellter in der Sozialversicherung besaß er Verwaltungserfahrung und avancierte rasch zum Sprecher der Ratsfraktion und zum Kreisvorsitzenden. Zudem kam er in den Bundesvorstand. Für Umweltschutz interessierte sich Grimmer weniger, sein Anliegen war eine US-kritische und pazifistische Außenpolitik. „Das waren durchaus linke Positionen“, sagt er heute.

Als sich die Grünen von Blockfreiheit und Neutralität verabschiedeten, verließ Grimmer 1991 die Partei, blieb aber für eine andere Liste im Gemeinderat. 2012 wurde er Landesvorsitzender der Freien-Wähler-Abspaltung, die zu überregionalen Wahlen antreten wollte, im Jahr darauf wechselte er zur neu gegründeten AfD.

Die Plattenbausiedlung auf dem Buckenberg

Trotz all dieser Veränderungen zieht sich die Russlandpolitik wie ein roter Faden durch sein Leben. In der AfD war Grimmer ein Anhänger des Euro-Kritikers Bernd Lucke, während er den früheren BDI-Chef Hans Olaf Henkel kritisch sah – weil dieser die Sanktionen gegen Russland verteidigte.

Kein Wunder also, dass die Grimmer-AfD bei Russlanddeutschen in Pforzheim populär ist. Am deutlichsten wird das im Wohngebiet Haidach, in dem zu 90 Prozent Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion wohnen. Auf den ersten Blick wirkt die Plattenbausiedlung auf dem Buckenberg an einem trüben Morgen wie ein typisches architektonisches Ensemble aus des Wirtschaftswunderzeiten. Mitten in der grauen Häuserburg residiert ein kleines Versorgungszentrum. Der „Mix-Markt“ wirbt mit grellbunten Reklametafeln für das „Angebot der Woche“.

Daneben liegen die Apotheke und ein Friseurladen. Kyrillische Schriftzeichen sind omnipräsent. „Wir sprechen Russisch“, verspricht ein Autoservice auf einem Plakat. Drei weißhaarige Rentner reden über die Weltlage, ein Jugendlicher kokelt an einem Verkaufsstand Fleischspieße und verkauft sie an Passanten.

Nur drei schwarz gekleidete Personen passen nicht recht zu dieser kleinbürgerlichen Idylle. Armbinden weisen sie als Mitglieder einer selbst ernannten „Bürgerwehr“ aus. Sie patrouillieren vor dem Laden, mit dem Journalisten wollen sie nicht reden. „Wir passen hier auf“, sagen sie bloß, und mustern ihr Gegenüber derart misstrauisch, dass man sich fragt, ob die Bürgerwehr vielleicht eher Schrecken verbreitet als für Sicherheit zu sorgen.

Die heile Welt des Pfarrers bekommt einen Risse

Nein, Haidach sei schon längst kein Problemviertel mehr, kein sozialer Brennpunkt wie früher. Auf diese Feststellung legt Alexander Kunick wert. Der 55-Jährige ist der evangelische Pfarrer des Stadtteils. Er sitzt im Empfangszimmer des Gemeindezentrums in Sichtweite des Ladenzentrums. Seit drei Jahren ist Kunick hier tätig, er hat sich bewusst für Haidach entschieden, weil er bereits in Karlsruhe mit Aussiedlern gearbeitet hatte. „Ich fühle mich sehr wohl“, sagt er. Der Protestant freut sich über die starke Kirchenbindung, der Gottesdienst am Sonntag ist noch ein Stelldichein, zu dem die ganze Familie kommt und den Worten des Geistlichen lauscht.

Am 13. März hat Alexander Kunicks heile Welt einen Riss bekommen. „Ich war entsetzt und schockiert über das Wahlergebnis der AfD“, sagt der Theologe. Denn eigentlich ist Haidach aus seiner Sicht ein Musterbeispiel dafür, wie Integration gelingen kann. Früher prägten Gewalt, Alkohol und Kriminalität das Viertel. Doch längst bilden das Bürgerhaus und die Kirchengemeinde eine soziale Klammer, die alles zusammenhält. So ist ein stabiles Milieu entstanden. „Die meisten haben ein mittleres Bildungsniveau und einen guten Job“, sagt Kunick. Viele arbeiten bei Mercedes in Sindelfingen oder Rastatt.

Warum also so viele Stimmen für die AfD? Warum eine Bürgerwehr?

Seit einigen Monaten sind rund 40 Asylbewerber aus Nigeria, dem Irak, Gambia und Pakistan in einer Haidacher Unterkunft. Kaum jemand bemerkt sie, Kunick organisiert mit einem Freundeskreis Alltagshilfe für die Flüchtlinge. Dass einer seiner Schützlinge auch nur im Entferntesten eine Gefahr darstellt, ist für den 55-Jährigen außerhalb jeder Vorstellung: „Das sind friedliche, traumatisierte Leute.“ Und doch haben sie nicht nur Ängste geweckt, sondern auch Wut.

Die Stimmung kippt

Das hat Alexander Kunick bei einer Predigt Anfang März gemerkt, in der er die fremdenfeindlichen Ausschreitungen einer rechtsradikalen Menschenmenge im sächsischen Clausnitz kritisierte. „Ich habe deutlich erklärt, dass so etwas völlig unakzeptabel ist für Christen, habe von einem Mob gesprochen“, erzählt der Pfarrer. Die Gemeinde war irritiert, ein junger Mann hat ihn sogar angeschrien. Kunick spürte, dass er mit seiner Meinung ziemlich alleine dastand. Der Theologe macht die Angst vor sozialem Abstieg für diese Stimmung verantwortlich, die Angst vor einem Verlust der mühsam aufgebauten Existenz und des bescheidenen Wohlstands. Die Aussiedler fühlen sich durch die Zuwanderer bedroht: „Das bekomme ich immer wieder zu hören“, berichtet Alexander Kunick.

Das sieht auch Gert Hager so. Der Jurist und Sozialdemokrat ist Pforzheimer Oberbürgermeister und residiert in einem riesigen Betonbau am Marktplatz. Wirklich überrascht hat den 53-Jährigen der Erfolg der AfD nicht. „Wir sind eine Stadt der Gegensätze“, sagt er. So weist Pforzheim die dritthöchste Millionärsdichte in Deutschland auf, zugleich leben viele Familien in prekären Verhältnissen. Besonders bedenklich ist, dass zwei Drittel der Erwerbslosen nicht einmal einen Schulabschluss besitzen – davon haben wiederum die Allermeisten einen Migrationshintergrund. Menschen aus 143 Nationalitäten wohnen in der Stadt, auch das ist wiederum ein rekordverdächtiger Wert.

Bernd Grimmer gelingt es offenbar, aus diesen soziologischen Fakten politisches Kapital zu schlagen. Sein beispielloser Erfolg bei der Landtagswahl hat ihn zu einem Star der AfD gemacht. Grimmer in diesen Tagen zu treffen, ist nicht ganz einfach. Medienanfragen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bis zu französischen Fernsehsendern halten ihn auf Trab, zudem konstituiert sich die neue Fraktion im Stuttgarter Landtag, Grimmer ist deren Geschäftsführer und einer von drei Landessprechern. Die Begegnung findet nach vielen Telefonaten in der Geschäftsstelle der AfD in Stuttgart statt.

Das Büro liegt abgelegen in einem Gewerbegebiet, keine Schilder weisen darauf hin. „Wir wollen anonym bleiben, sonst fürchten wir Anschläge“, sagt Grimmer. Der Pforzheimer tritt höflich auf und spricht zurückhaltend. Ihn scheint wenig mit den Lautsprechern der Partei wie Björn Höcke, dem AfD-Fraktionsvorsitzender im Thüringer Landtag, zu verbinden.

Die Wahlanalyse des neuen AfD-Stars

Grimmer war Jahrzehnte in der Sozialversicherung tätig, vor fünf Jahren ging er in Rente. Er ist in Pforzheim geboren und aufgewachsen, hat zwei Kinder und ist verwitwet. Viel mehr will er über sich selbst nicht erzählen, lieber spricht er über Angela Merkel und die aus seiner Sicht fehlerhafte Parteiendemokratie. Eloquent tritt er auf, hat auf jede Frage eine Antwort. Was sagt er zu Björn Höckes Gerede vom „afrikanischen vermehrungsfreudigen Ausbreitungstyp“? So etwas sei normal für eine junge Partei: „Björn Höcke sollte eine andere Sprache sprechen, aber ich finde gut, dass er ein Patriot ist.“

Nein, unwohl scheint sich Grimmer mit solchen Leuten in seiner Partei nicht zu fühlen. Und er hat auch keine Sorge, als bürgerliches Aushängeschild missbraucht zu werden. „Wir lehnen ehemalige NPD-Mitglieder bei uns ab und führen mit Antragstellern anderer rechter Gruppierungen Einzelgespräche“, betont er. „Ich habe selbst solche Gespräche geführt.“ Besteht nicht dennoch die Gefahr, dass der rechte Flügel und Radikale vollends die Macht in der AfD übernehmen? Er beugt sich vor, lächelt gewinnend: „Genau dafür will ich sorgen, dass wir nicht das Schicksal anderer neuer Parteien erfahren.“

Grimmer wird niemals ungehalten, er ist bereits ein echter Medienprofi. Wie erklärt er sich, dass Russlanddeutsche in seiner Heimatstadt Bürgerwehren organisieren und seiner Partei in Scharen zu laufen? Der 65-Jährige hat eine einfache Antwort: „Wir vertreten die konservativen Positionen, die früher die CDU vertreten hat.“ Diese These passt ideal zu dem Bild, das Grimmer von sich selbst zeichnet: ein aufrechter Konservativer, bürgerlich und seriös. Wer sollte vor diesem freundlichen, intellektuellen älteren Herrn Angst haben?

Fremdeln mit der CDU

Seine Anhängerschaft weist teilweise einen ganz anderen sozialen Hintergrund auf. Die AfD spricht vor allem die jüngeren Russischstämmigen an, die Anfang der 2000er Jahre nach Pforzheim gekommen sind, Russisch sprechen und sich in mutmaßlich von Präsident Putin gesteuerten Medien aus Moskau informierten. Die Mitglieder der Bürgerwehr in Haidach etwa kommen aus dieser Gruppe. Als der „Perwij Kanal“ im Januar die Falschmeldung über eine angebliche Vergewaltigung eines russischstämmigen Mädchens in Berlin durch Migranten berichtet hatte, organisierten sie in Pforzheim eine Demonstration. Sie trugen Schilder mit Aufschriften wie „Unsere Kinder sind in Gefahr“ oder „Heute mein Kind – morgen dein Kind“.

Früher erzielte die CDU in Haidach 70 Prozent. Doch mit einer Partei, die gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Kita-Ausbau und nun Willkommenskultur vertritt, fremdeln die traditionell denkenden Aussiedler. Und nicht nur die.

In Pforzheim trifft die AfD auf ein konservativ-evangelikales Milieu, das ähnlich traditionell denkt wie die Aussiedler. Der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim hat in seiner Wahlanalyse herausgefunden, dass die AfD in einem breiten Gürtel von Calw über Pforzheim bis nach Schwäbisch Hall gute Wahlergebnisse eingefahren hat. „Offenbar gibt es in den protestantischen, teils pietistischen Regionen einen Nährboden für rechte Parteien.“ Weniger Zuspruch erfährt die neue Partei in Großstädten und katholischen Landstrichen wie Oberschwaben. In evangelikalen Kreisen finde die AfD offenbar stärker Anknüpfung an autoritäre und chauvinistische Orientierungen, sagt Brettschneider.

Diese Kombination aus tief verwurzelten politischen Überzeugungen und kurzfristigen sozialen Entwicklungen – Stichwort: Flüchtlingskrise – hat Grimmer ins Landesparlament gebracht. Genugtuung über diesen persönlichen Erfolg bestreitet er nicht. Nur eines wurmt den künftigen Fraktionsgeschäftsführer der AfD: Dass die alten Kollegen aus dem Pforzheimer Stadtrat ihn nicht mehr grüßen. Bei aller Freude über das Direktmandat und den Erfolg der AfD scheint Grimmer eines bewusst zu sein: Mit seinem Engagement für eine in Teilen fremdenfeindliche Partei grenzt er sich aus seinem ehemaligen gesellschaftlichen Umfeld in seiner Heimatstadt aus.

Zurück in den Stadtteil Haidach. Die Sonne hat sich gegen die Wolken durchgesetzt an diesem Frühlingstag. „Das Phänomen AfD wird sich wieder verflüchtigen“, glaubt Alexander Kunick und erzählt von einem vorbildlichen Jugendprojekt in seinem Stadtteil: Russlanddeutsche und Einheimische organisieren zusammen Freizeiten. „Für die nächste Generation“, sagt der Pfarrer, „spielt die Abgrenzung gegen Fremde vielleicht gar keine Rolle mehr.“