AfD im Bundestag Attacke von innen

Für die AfD ist der Bundestag vor allem eine Bühne – und der Regisseur Alexander Gauland ist meist anwesend, um persönlich die Geschicke zu lenken. Foto: imago/photothek

Es ist die AfD gewesen, die das Parlament in Berlin verändert hat – nicht umgekehrt. Unsagbares ist sagbar geworden – und das bedeutet mehr als nur Diskursverschiebung. Eine Analyse.

Berlin - Es ist der Morgen des 8. Juni 2018, als eine Provokation der AfD für Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth zur persönlichen Bedrohung wird. Roth leitet gerade die Sitzung, da tritt der AfD-Abgeordnete Thomas Seitz ans Rednerpult und fordert alle zu einer Schweigeminute auf. In Wiesbaden ist kurz zuvor die 14-jährige Susanna getötet worden, tatverdächtig ist ein Flüchtling. Seitz legt wie zum Gedenken die Hände aneinander und sagt: „Aus der Erde kommst du, zu Erde wirst du werden.“

 

Seinen Kopf hält er demonstrativ gesenkt, doch immer wieder huscht sein Blick in Richtung seiner Fraktion. Dort erheben sich die meisten seiner Kollegen. „Darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir gerade zur Geschäftsordnung reden?“, sagt Claudia Roth. Kurz darauf beendet sie die Inszenierung.

„Dich Vieh werden wir an Klavierdraht hängen“

Doch damit ist die Sache nicht vorbei. Wie ein Sturm rauschen die Bilder der Szene durchs Internet. Die AfD verbreitet das Video mit den Worten: „Sitzungspräsidentin Claudia Roth ignorierte die Schweigeminute und verwies Thomas Seitz (AfD) vom Rednerpult.“ Nur die AfD habe des Mädchens gedacht. Dann bricht der Hass los. Eine Flut von Mord- und Vergewaltigungsdrohungen erreicht Roths Büro. „Dich Vieh werden wir an Klavierdraht am Fleischerhaken hängen“, schreibt einer. Roth braucht Polizeischutz.

Seit bald vier Jahren sitzt die AfD jetzt im Bundestag. Von Beginn an waren diese Jahre geprägt von Provokation und Eskalation. Nun neigt sich die erste Legislatur ihrem Ende zu.

Vertrauen ist konstitutiv in der Demokratie

Die anfängliche Hoffnung vieler, die AfD werde sich im Hohen Haus mäßigen, war vergebens. Aus heutiger Sicht klingt sie fast naiv. Aber das ist sie nicht. Sie ist konstitutiv. Sie folgt der Grundidee des Parlaments. Denn die repräsentative Demokratie ist ein auf Vertrauen angelegtes System. Zu ihrem Kern, dem Streit über die beste Lösung, gehört die grundsätzliche Gutwilligkeit im Umgang mit dem politischen Mitbewerber. Auf dieser Basis funktionierte bisher die Auseinandersetzung. Zwar durchaus mit harten Bandagen, doch sie bewegte sich in einem Rahmen, der sich nicht als Gesetz festschreiben lässt – dem Rahmen des Anstands derer, die unterschiedlicher Meinung sind, aber das System an sich für tauglich und schützenswert halten.

Stattdessen sieht sich die Republik nun einer Partei gegenüber, die den Parlamentarismus von innen heraus attackiert. Die Radikalisierung, die der Verfassungsschutz bundesweit beobachtet, zeigt sich auch in der Fraktion. Wer Bilanz zieht nach diesen vier Jahren, kommt zu dem Schluss: Es war die AfD, die das Parlament verändert hat, nicht umgekehrt.

Die Partei versucht, andere vorzuführen

Nun hat das Superwahljahr 2021 begonnen. Die Partei hat im Südwesten Verluste eingefahren, aber im Ergebnis steckt eine andere Botschaft: Die AfD wird bleiben. Sie geht in den ersten westdeutschen Flächenländern stabil in die zweite Runde. Skandale, die Radikalisierung und der Verfassungsschutz schrecken die Kernwählerschaft nicht ab. Im Juni steht in Sachsen-Anhalt die nächste Wahl an. Die Partei ist dort so stark, dass nach Umfragen nur ein Viererbündnis gegen sie möglich wäre. Alle gegen eine – für das Wesen des Parlamentarismus wäre eine solche Konstellation eine Gefahr. Der AfD würde sie in die Hände spielen: Sie könnte umso effektiver mit genau den Methoden weiter agieren, die sie schon in der ersten Legislatur verfolgt hat.

Wie im Bundestag Unsagbares sagbar gemacht wird

Am Beispiel Bundestag lassen sich diese Methoden analysieren. Hier lässt sich genau beobachten, wie die Partei mit System versucht, die anderen vorzuführen, das Vertrauen in die Entscheidungsprozesse zu untergraben, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben.

Die Methode Tabubruch

Den zentralen Punkt ihrer Taktik zeigt die AfD schon in der ersten Sitzung: den Tabubruch. Erster Redner ist der Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann. Für Baumann ist diese Rede einer der wichtigsten Momente seines Lebens. Bislang musste er am Fernseher den Abgeordneten lauschen, deren Politik er verachtet. Jetzt müssen sie ihm zuhören.

Baumann redet zur Alterspräsidentenregelung: Die anderen Fraktionen hatten vor der Wahl die Geschäftsordnung geändert, wonach nicht der Älteste die erste Sitzung eröffnet – es wäre jemand von der AfD gewesen –, sondern der Dienstälteste. Baumann bezeichnet das als „List“. Seit 1848 hätten alle Reichs- und Bundestage die Regel akzeptiert. Mit einer Ausnahme: „1933 hat Hermann Göring die Regel gebrochen, weil er politische Gegner ausgrenzen wollte, damals Clara Zetkin.“ Die AfD-Fraktion applaudiert tosend.

Der Göring-Vergleich ruft die erwartete Empörung hervor. Und die Phase der Faktenchecks für Politikerbehauptungen setzt ein. Der Vergleich sei teilweise falsch, schreibt die Deutsche Presse-Agentur nüchtern. Clara Zetkin konnte 1933 nicht mehr das älteste Mitglied des Reichstags sein. Sie wurde von Göring ganz an der Ausübung ihres Mandats gehindert. Das Amt des Alterspräsidenten schaffte er nach der Machtergreifung im Handstreich ab. Baumann versucht mit seiner Rede eine Parallele zu ziehen zwischen einem Massenmörder und den anderen Parteien im Bundestag.

Ein parlamentarischer Arm für die Rechte

Mit der AfD wird im Hohen Haus Unsagbares sagbar. Die Diskursverschiebung ist eines ihrer wichtigsten Ziele. Es geht darum, Positionen in den parlamentarischen Raum einzuführen, die bisher nur am extrem rechten Rand existieren. Planmäßig trägt die AfD zum Beispiel den rechtsextremen Verschwörungsmythos einer angeblichen Umvolkung ins Parlament, die Erzählung eines geplanten Austauschs der einheimischen Bevölkerung gegen Migranten. Es dauert eine Weile, bis sich die Erkenntnis bei den anderen durchsetzt: Erstmals in der jüngeren Geschichte hat die extreme Rechte einen parlamentarischen Arm und so die Möglichkeit, die Bühne des Parlaments für die Verschiebung des Diskurses zu nutzen.

Und für die AfD ist der Bundestag auch vor allem das: eine Bühne. Von Anfang an werden Videos ihrer Reden im Netz verbreitet, hunderttausendfach bei Youtube angesehen, bei Facebook geliked. Der Innenpolitiker Gottfried Curio ist der Prototyp des Youtube-Abgeordneten. Seine Reden sind Hits in der AfD-Blase. Dafür ist nicht wichtig, wie andere Fraktionen reagieren. Um die Debatte geht es nicht, es geht um Reichweite. Denn Reichweite verschiebt den Diskurs.

Der Versuch, das Vertrauen zu untergraben

Immer deutlicher wird über die Jahre auch, wie die AfD versucht, das Vertrauen in die deutsche Demokratie generell zu untergraben. Eines der frühen Beispiele ist die Debatte über die jährliche automatische Diätenanpassung, die der Bundestag 2017 beschließen will. „Schämen Sie sich nicht?“, ruft der AfD-Politiker Stefan Keuter. Zuvor hat schon die „Bild“ getitelt: „Dreiste Politiker im Bundestag: Keine Regierung, aber sie erhöhen sich schon die Diäten“. Auf diesen Zug will die AfD aufspringen. Dabei hat die Fraktion, wie die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, später sagt, in den vorbereitenden nicht öffentlichen Sitzungen nichts einzuwenden gehabt.

Die Bundesrepublik und der Diktatur-Vorwurf

Solche Situationen gibt es danach öfter. Die anderen erkennen ein System. „Es kommt dauernd vor, dass die Partei in internen Besprechungen zum Beispiel zur Tagesordnung schweigt und dann hinterher so tut, als sei sie nicht gefragt worden“, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Carsten Schneider.

Die Diskreditierung als Diktatur

Dieses Vorgehen wird über die Jahre extremer. Bald geht es nicht mehr nur darum, die Entscheidungsfindung zu diskreditieren. Die AfD setzt darauf, die Bundesrepublik insgesamt als Diktatur darzustellen. Als eine „DDR 2.0“, in der man nicht mehr seine Meinung sagen darf. Oder als eine Art Wiedergängerin des NS-Regimes, mit Merkel als „Führerin“ und der AfD als Verfolgte. In der Pandemie spricht sie von einer „Corona-Diktatur“, nennt das Infektionsschutzgesetz ein „Ermächtigungsgesetz“. Das Kalkül: Wenn die Anhänger der AfD glauben, sich in einer Diktatur zu befinden, mobilisiert das zum Widerstand.

Manche Abgeordnete blicken kritisch auf die Zeit vor dem Einzug der AfD zurück: Der demokratische Streit sei etwas lahm geworden. Auch die Anwesenheit im Plenum ließ zum Teil zu wünschen übrig. Doch die AfD hat mehr getan, als die Schwächen des Parlaments offenzulegen. Nach vier Jahren ist für viele Abgeordnete klar: Sie hat das Klima vergiftet. „Mit der AfD ist zum ersten Mal die Idee ins Parlament zurückgekehrt, dass wir nicht mit Argumenten den sportlichen Wettbewerb um die beste Lösung führen, sondern uns in einem Kampf befinden“, sagt Marco Buschmann, der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP.

Die anderen Parteien waren kaum vorbereitet

Die Tabubrüche, die Feindseligkeit: Auf all das waren die anderen kaum vorbereitet. Vier Jahre später haben sie sich zumindest auf die AfD eingestellt. Wenn die Partei versucht, über eine Geschäftsordnungsdebatte zu provozieren, antwortet meist nur noch eine Fraktion. Die Idee ist, Paroli zu bieten, aber so knapp wie möglich. Auch haben viele Abgeordnete verstanden, dass leidenschaftliche Reden gegen die Partei zwar Applaus sichern, aber eben stets die AfD in den Mittelpunkt stellen. Das Parlament hat in den vergangenen Jahren Neuland betreten und Regeln geändert. Zum ersten Mal wurde ein Ausschussvorsitzender abgewählt – für den Rechtsausschuss war der AfD-Politiker Stephan Brandner nach wiederholten Grenzüberschreitungen untragbar.

Aber immer wieder schafft es die AfD, den Bundestag nachhaltig zu erschüttern. Während an einem Mittwoch im November 2020 die Gegner der Coronamaßnahmen durchs Regierungsviertel ziehen, soll im Parlament das Infektionsschutzgesetz beschlossen werden. Die AfD hat zuvor massiv gegen das Gesetz mobil gemacht. Jetzt streifen vier rechte Medienaktivisten durchs Parlament – Gäste von AfD-Abgeordneten. Sie filmen Politiker, bedrängen sie. Die anderen Abgeordneten sehen einen Angriff auf das freie Mandat, einen Versuch, eine Abstimmung durch Nötigung zu beeinflussen. Eine neue Stufe der Eskalation. Es wird, so muss man wohl annehmen, nicht die letzte sein.

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