November-Revolution 1918 Rote Fahne auf dem Wilhelmspalais

Am 9. November 1918 stürmen rebellische Arbeiter und Soldaten das Wilhelmspalais, um eine rote Fahne zu hissen. Der links­radikale Fritz Rück sitzt derweil noch im Gefängnis. Foto: Württembergische Landesbibliothek

Vor 100 Jahren hat sich Deutschland in eine Demokratie verwandelt. Wir erzählen die Anfänge der neuen Republik am Beispiel einiger Wegbereiter aus dem Südwesten. Ein Rückblick auf das Scheitern des Spartakisten Fritz Rück.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - In Württemberg sind auch Sozialdemokraten königstreu. Revolution steht nicht auf ihrer Agenda. „Die Frage Republik oder Monarchie schien nicht aktuell zu sein“, erinnert sich Wilhelm Keil, der für die SPD im Stuttgarter Landtag saß, an die Tage vor dem Umsturz. Seine Genossen hatte er in der „Schwäbischen Tagwacht“ auf Loyalität zum Schwabenkönig Wilhelm II. eingeschworen. „So will uns erscheinen, dass gar nichts geändert würde, wenn morgen in Württemberg an die Stelle der Monarchie die Republik treten würde“, schreibt er im Oktober 1916. „Kein Zweiter würde, wenn alle Bürger zu entscheiden hätten, mehr Aussicht haben, an die Spitze des Staates gestellt zu werden, als der jetzige König.“ Zwei Jahre später kommt es ganz anders.

 

In Stuttgart gab es nicht nur „sozialdemokratische Hofgänger“, betont der Historiker Wolfgang Benz. Früher als andernorts machen württembergische Sozialdemokraten im Ersten Weltkrieg gegen den Militarismus des Deutschen Reiches mobil. Schon im Herbst 1914 formiert sich eine radikale Gruppe, die sich von der SPD abspaltet. Im Stuttgarter Landtag verlassen Mitte 1915 drei der 17 Abgeordneten aus Protest gegen den Krieg die SPD-Fraktion und gründen die „Sozialistische Vereinigung“. Im Reichstag vollzieht sich dieser Prozess erst Monate später. Benz fasst zusammen: „Als Propagandazentrale und Deserteursstützpunkt spielte Stuttgart eine wesentliche Rolle in der Vorgeschichte der Novemberrevolution.“

Unter den radikalen Schwaben macht sich der junge Schriftsetzer Fritz Rück rasch einen Namen. Er wird „kein herausragender Parteiführer und nicht zu den intellektuellen Leitfiguren des Sozialismus gezählt“, so die Biografin Elisabeth Benz. Bei Streikversammlungen mausert er sich aber zum Rädelsführer. Rück, damals 23 Jahre alt, hat anderes im Sinn als sein königstreuer Genosse Keil. Er treibt den Umsturz in Württemberg voran.

„Die flammende Fackel des Glücks“

Der Sohn eines Schreiners ist seit 1913 Mitglied der SPD, „stark geprägt durch sein sozialdemokratisches Elternhaus und das Arbeitermilieu im Stuttgarter Osten“, so Benz. 1915 wird er zum Kriegsdienst eingezogen. „Die Arbeiterklasse ist Prometheus, sie wird der Menschheit die flammende Fackel des Glücks vorantragen“, dichtet Rück im Schützengraben. Im September 1918 reist er nach Berlin zu einer Reichskonferenz der Spartakusgruppe, wie sich die Radikalen in der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) nennen, die sich links der SPD formiert. Am 30. Oktober organisiert die USPD in Stuttgart eine Kundgebung gegen den Krieg. 5000 Menschen erscheinen. Rück verfasst ein Manifest, das davor warnt, sich durch „scheindemokratische Reformen“ von revolutionären Zielen ablenken zu lassen. Vom Musikpavillon auf dem Schlossplatz herab ruft er: „Ein Hoch auf die Weltrevolution!“ Das ist der Auftakt des Umsturzes in Stuttgart.

Die Obrigkeit wird von der Dynamik der Ereignisse überrascht. „Die Verhältnisse lagen Ende Oktober so, dass ich mit dem Ausbruch von ernsteren Störungen auch rechnen musste“, notiert Württembergs Innenminister Ludwig von Köhler. Doch er glaubte, „ihrer Herr zu werden und, zumal bei der großen Beliebtheit des Königs in allen Schichten, einen Umsturz zu verhindern.“ Unter dem Eindruck der Reformen, die der neue Reichskanzler Max von Baden einleitet, wird auch in Stuttgart erwogen, eine Regierung einzusetzen, die dem Parlament verantwortlich ist. Dazu kommt es vorerst aber nicht. Führende Politiker der SPD und altgediente Gewerkschafter unterschätzen das Ausmaß der Unzufriedenheit und die Verbitterung über die Fortdauer des Krieges. Kolb registriert auch in Württemberg einen „Autoritäts- und Prestigeverfall der staatlichen Organe“. Für die SPD ist Russland, wo sich 1917 ein sozialistisches Regime etabliert hat, eine Horrorvision. „Die Nachahmung des russischen Vorgehens“, warnt der Sozialdemokrat Keil, „käme dem Selbstmord gleich.“ Er wirbt für eine „organische Umwälzung“.

Der junge Revoluzzer

Darauf wollen Leute wie Fritz Rück aber nicht warten. Ende Oktober 1918 bildet sich in Stuttgart ein illegaler Arbeiter- und Soldatenrat, dessen Vorsitz der junge Revoluzzer übernimmt. Am 3. November versammeln sich Tausende Demonstranten auf dem Cannstatter Wasen, weil das Gerücht kursiert, der Spartakusführer Karl Liebknecht komme nach Stuttgart. Daraus wird aber nichts. Tags darauf beginnen Streiks in fast allen größeren Fabriken. Auch diese beruhen indes auf einem Irrtum.

In Berlin hatte der Spartakusbund gemeinsam mit den Revolutionären Obleuten, linksradikalen Betriebsräten, einen Generalstreik beschlossen. Ein Vertrauensmann aus Württemberg ist bereits wieder abgereist, als der Termin vom 4. auf den 11. November verschoben wird. Und so beginnt die Ouvertüre zu der Novemberrevolution in Stuttgart einige Tage zu früh. Zeitgleich proben aufrührerische Matrosen in Kiel den Umsturz.

„Wir wühlen jetzt auf und bereiten eine Revolution vor“, schreibt Fritz Rück. „Wir haben alle kein Rezept in der Tasche, wie man das macht, und wissen nicht, was nachher kommt.“ Vom 1. November an ist ihm eigentlich jegliche politische Arbeit bei Androhung einer Gefängnisstrafe untersagt. Er gilt als „gefährlicher Fanatiker“ und wird von der Polizei observiert. „Nur ein Feigling bleibt stehen und lässt seine Brüder im Stich“, heißt es auf einem von Rück verfassten Flugblatt. Am 4. November zieht er an der Spitze eines Demonstrationszuges von Daimler-Arbeitern in die Stadt.

Auf dem Schlossplatz versammeln sich 30 000

Auf dem Schlossplatz versammeln sich 30 000 Menschen. Fritz Rück klettert wieder auf den Musikpavillon und hält eine Rede, in der er vom König den Thronverzicht verlangt, da er für ein Regierungssystem stehe, das in vielem preußischer als preußisch sei. Allerdings räumt er ein, dass Wilhelm II. persönlich „auch in Arbeiterkreisen“ als ein guter Fürst gelte. „Jede Losung gegen das Ausbeuterregime zündete“, so sein Eindruck. Am Abend verprügelt die aufgehetzte Menge 15 Bosch-Arbeiter, die sich dem Streik widersetzen.

In der Nacht zum 5. November wird in Stuttgart die erste „Rote Fahne“ gedruckt, die spätere Parteizeitung der Kommunisten. Das Blatt veröffentlicht auf der Titelseite ein Zehn-Punkte-Programm: Es setzt sich für einen sofortigen Waffenstillstand ein, fordert den Sieben-Stunden-Tag und Mindestlöhne. Zudem soll die Regierungsmacht den Arbeiter- und Soldatenräten übertragen werden. Rück schreibt: „Die proletarische Sturmflut wälzt sich brausend gegen den unterwühlten Felsen der Kapitalherrschaft. Bald wird er stürzen!“

Das bleibt sein Traum. Noch bevor die Novemberrevolution richtig beginnt, ist der Umsturz für Fritz Rück erst einmal vorbei. Am Abend des 6. November wird er auf dem Ulmer Bahnhof verhaftet. Ihm droht eine Anklage wegen Hochverrats. Die Behörden sehen sich aber rasch gezwungen, ihn wieder freizulassen. Allerdings wird „die Entlassung bewusst so lange verzögert, bis die Weichen für den Fortgang der Revolution gestellt waren“, sagt der Historiker Michael Hugh Fritton. Die Stuttgarter Spartakusgruppe habe sich nach der Verhaftung ihrer Anführer „in einer buchstäblich kopflosen Lage“ befunden, urteilt auch dessen Kollege Kolb.

Wilhelms letztem Kabinett bleibt keine Zeit mehr zum Regieren

Sozialdemokraten und Gewerkschaften rügen die „selbstmörderische Putschpolitik“ der Spartakisten. Karl Vorhölzer, Bezirksleiter des Metallarbeiterverbandes, wettert gegen „unklare Köpfe“ wie den inhaftierten Rück, die „Verwirrung in die Massen tragen“. Am 8. November ernennt der König eine Regierung, an der erstmals auch SPD-Minister beteiligt sind. Seinetwegen dürfe kein Blut fließen, lässt er mitteilen. Während Wilhelm II. das neue Kabinett tags darauf vereidigt, rufen USPD und Spartakusbund auf den Straßen den Volksstaat Württemberg aus. Demonstranten wollen auf dem Wilhelmspalais eine rote Fahne hissen. Sie entwaffnen die Wache, schlagen einen Offizier nieder. Der König will sich widersetzen, kann den revolutionären Akt aber nicht verhindern. Persönlich wird er nicht behelligt.

Wilhelms letztem Kabinett verbleibt keine Zeit mehr zum Regieren. Noch am 9. November übernehmen die beiden sozialdemokratischen Parteien das Regiment. Auch die erste Revolutionsregierung entpuppt sich jedoch als „Eintagsfliege“, wie es der Sozialdemokrat Keil ausdrückt. Auf Drängen der SPD werden tags darauf auch bürgerliche Minister in das Kabinett berufen. Am Abend des 10. November wird der König nach Bebenhausen kutschiert, ohne formell abgedankt zu haben. Dieser Schritt folgt erst am 30. November. Zwei Wochen zuvor entbindet er alle Staatsbediensteten von dem Eid, den sie ihm geleistet hatten. Keil verlangt, „dass dem alten Herrn kein Leid widerfahre“.

Inzwischen ist Fritz Rück wieder auf freiem Fuß. Er will verhindern, dass die Revolution sich damit begnügt, „den Bürgerlichen zu helfen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen“. Im Arbeiter- und Soldatenrat muss er jedoch erleben, dass radikale Träume keinen Rückhalt finden. Rück sei dem taktischen Geschick seiner Gegner nicht gewachsen gewesen, heißt es. Die Entscheidung zwischen Rätestaat und parlamentarischer Demokratie fällt nicht so aus, wie er erhofft. „Ich selbst war plötzlich hundemüde“, erinnert er sich. Er zieht sich zurück, „in einem Gefühl völliger Wurstigkeit“.

Der Putschversuch der Spartakisten wird niedergeschlagen

Die Novemberrevolution verläuft nicht in seinem ursprünglichen Sinn. Am Tag nach Rücks „wurstiger“ Kapitulation formiert sich ein „Rat geistiger Arbeiter“ – ohne Spartakisten. Die Linksradikalen verlieren rasch an Einfluss. Im Januar 1919 wird ein vom Spartakusbund inszenierter Putschversuch niedergeschlagen.

Rück verlässt Stuttgart wenige Tage nach seiner „wurstigen“ Kapitulation. Die Genossen vom Spartakusbund berufen ihn nach Berlin in die Redaktion der „Roten Fahne“. 1919 tritt er der neu gegründeten Kommunistischen Partei bei. Zehn Jahre danach verlässt er sie wieder, wechselt zurück zur SPD. Als die Nazis an die Macht kommen, flieht er in die Schweiz, emigriert später nach Schweden. Erst 1950 kehrt er nach Stuttgart zurück und stirbt dort 1959.

Weitere Themen

Weitere Artikel zu Reportage