Seit Mitte der Achtziger berichten Journalisten regelmäßig über das tödliche Virus, gegen das es noch immer kein Heilmittel gibt.

Stuttgart - Sex, Blut, todbringende Seuche - diese Triggerworte werden in den frühen achtziger Jahren deutschlandweit auch abseits des Boulevards zu Titelzeilen mit enormer Schlagkraft. Sie beschreiben das Wüten eines Phantoms, das innerhalb weniger Jahre Millionen Menschen das Leben kosten wird. Am 5. Juni 1981 ahnt das noch niemand, als die amerikanische Seuchenbehörde CDC eine scheinbar harmlose Notiz in die Welt setzt: fünf junge homosexuelle Männer seien in Los Angeles an einer Lungenentzündung erkrankt, die durch eine Pilzinfektion ausgelöst worden war. Nach einer Katastophe, die die Welt in Atem halten wird, klingt das nicht. Noch nicht.

 

Doch den Experten ist schnell klar: ein intaktes Immunsystem wäre mit dieser Erkrankung spielend fertig geworden. Im Körper der fünf jungen Männer muss also noch etwas anderes toben. Etwas, wofür die Mediziner keinen Namen haben.

Innerhalb kurzer Zeit werden ähnliche Fälle aus Spanien, Frankreich, der Schweiz und Uganda gemeldet. Mit rasender Geschwindigkeit breitet sich das aggressive Virus aus. Erst in der Rückschau weiß man: zum ersten Mal trat es 1959 im Kongo auf. Ende der siebziger Jahre kommt der Todesbote dann in Deutschland an - der erste Patient wird 1982 in Frankfurt registriert. Das Robert-Koch-Institut in Berlin (RKI) beginnt, ein Fallregister zu führen. Der Schrecken hat jetzt einen Namen: Die Viruserkrankung, die das Immunsystem angreift und dauerhaft schwächt, heißt Aids. Ein Jahr später ist bekannt, dass die Krankheit durch das HI-Virus ausgelöst wird.

1986 ist die Angst in Stuttgart angekommen

Bis Mitte der achtziger Jahre geht man davon aus, dass die Viren vor allem Risikogruppen wie Homosexuelle, Prostituierte und Drogenabhängige befallen. In einigen amerikanischen Studien, über die die StZ berichtet, bestätigt sich der Verdacht, dass Aids fast ausschließlich über den Intimverkehr übertragen wird. Die Ärzte vermuten vieles, wissen wenig. Die Allgemeinheit geht zunächst davon aus, dass sie Aids nicht betrifft, weil sie zu keiner Risikogruppe zählt. Doch treffen kann es plötzlich jeden. Dass Kondome schützen, erfahren viele erst über den Slogan im Jahr 1987.

Wird Aids schon beim Küssen übertragen? Im Schwimmbad, in der Sauna? Sind Tränen eine Gefahrenquelle? Kann man sich bei der Nutzung öffentlicher Toiletten anstecken? Können Katzenbisse Aids übertragen? Oder lauert die Gefahr auch im Restaurant - wenn beispielsweise der Koch infiziert ist? In den Jahren 1985 und 1986 ist die Angst längst in Stuttgart angekommen. In der Stadt gibt es mehrere Podiumsdiskussionen, über die die Stuttgarter Zeitung berichtet. Die Veranstaltungen sind überdurchschnittlich gut besucht. Dort wird besprochen, was die Menschen umtreibt: Soll es eine Meldepflicht für Aidskranke geben? Ist Peter Gauweilers Vorschlag, Aidskranke im Sinne des Bundesseuchengesetzes zu isolieren - am besten auf einer Insel, wie es gar ein Mediziner vorschlägt - menschenverachtend oder lebensrettend? Während der Debatten gibt es meist nur Schwarz oder Weiß. Die Angst aber hat viele Graustufen.

Im November 1985 fragt ein Stuttgarter Reporter nach, ob "Aids das Abendmahl der evangelischen Christen in der Stadt gefährdet". Das medizinische Institut Tübingen, beauftragt von der evangelischen Kirche, beruhigt mit einem Gutachten: eine Ansteckung durch die gemeinsame Kelchnutzung sei ausgeschlossen. Aus psychologischen Gründen rät das Institut, die Hygienemaßnahmen zu beachten. Konkret heißt das: den Kelch nach jeder Verwendung mit einem alkoholischen Tuch abwischen und drehen, bevor der Nächste daraus trinkt. Damals sagt der Württembergische Oberkirchenrat Jetter der StZ: "Ich weiß nicht, wie das während der Pest gehandhabt wurde, aber wir wollen an unserer Abendmahlpraxis, die biblisch begründet ist, auch festhalten." Vier Wochen später reicht die Jakobsgemeinde in Niedereschach bei Villingen-Schwenningen den Abendmahlswein in Einzelkelchen.

Das Problem ist kein ausschließlich medizinisches mehr

Die Zahl der Aidsinfizierten weltweit steigt. Die Panik in Stuttgart auch. Wolfgang Borgmann berichtet für die Stuttgarter Zeitung unaufgeregt, aber mit einem warnenden Unterton. "Auch Krankheiten haben Medienkonjunktur - das ist leider wahr", schreibt er am 30. Oktober 1986. "Doch wer sich vor einiger Zeit damit trösten wollte, dass die Zahl der Aidsinfizierten nicht so drastisch steigen werde wie vorausgesagt, muss leider umdenken."

Zwei große Krankenversicherer schalten Hotlines, um Verunsicherte über die Wahrscheinlichkeit einer Aidserkrankung bei der Grippeimpfung zu informieren. Statt der üblichen Impfpistole sollen Einwegkanülen zum Einsatz kommen. Im selben Jahr braucht die Aidshilfe neben 20 Mitstreitern eine hauptamtliche Kraft, der Beratungsbedarf ist enorm. Drei Stuttgarter verlieren nach einem positiven Testergebnis ihre Arbeit. Das Problem ist kein ausschließlich medizinisches mehr. Nicht nur Allgemeinärzte, auch Zahn- und Kinderärzte lehnen Behandlungen an Aidskranken ab. Krankenschwestern weigern sich, HIV-Positive zu duschen, weil die Desinfektion der Räume, so fürchten sie, zu aufwendig wäre. Zur Aidsprophylaxe in Stuttgart gehört auch, Asylanten aus Afrika auf das Virus hin zu untersuchen.

Es dauert nicht lange, bis vermeintliche Retter mit fraglichen Angeboten werben. Ein Stuttgarter Arzt will Aids mit künstlich erzeugtem Fieber, Thymianextrakt, Vitaminen und Ozon heilen. Die zweifelhafte Therapie kostet 20.000 Mark und erhitzt die Gemüter über die Stadt hinaus.

Die Suche nach einem Impfstoff hat kein Ende

Am 17. Januar 1985 sind bereits sechs Menschen in Baden-Württemberg an Aids gestorben. Zwei Jahre später meldet die StZ, dass sich die Ausbreitung des Virus verlangsamt. Die Zahl der Infizierten verdopple sich nicht mehr alle sechs, sondern nur noch alle neun Monate. Deutschlandweit gab es am 10. Oktober 1986 insgesamt 588 Aidskranke, von denen nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums im selben Jahr 248 starben. "Noch fünf Jahre oder länger kann es dauern, bis ein Impfstoff gefunden ist", berichtet die StZ.

Heute ist es möglich, die Krankheit mit Medikamenten gut zu therapieren. Aids ist aber nicht heilbar. Tödlich verläuft die vergessene Seuche für alle, die keinen Zugang zu den Medikamenten haben. Da sich Aidsviren permanent verändern, hat die Suche nach einem Impfstoff auch 2011 kein Ende.

Dreißig Jahre nach der ersten Meldung aus Los Angeles ziehen Vertreter der Vereinten Nationen Bilanz. Es ist ein trauriges Jubiläum. Das Virus hat Schätzungen der UN zufolge mehr als 30 Millionen Menschen das Leben gekostet. Weitere 30 Millionen tragen den Erregervirus HI in sich, zwei Drittel davon im südlichen Afrika.

In Deutschland, das mit Finnland 2009 die niedrigste Aidsquote für Westeuropa aufwies, leben 70.000 Menschen mit der Krankheit. Noch immer kommen auf jeden Aidspatienten, der in Behandlung geht, zwei, die sich neu mit dem Virus anstecken. Im Jahr 2010 haben sich laut RKI 3000 Menschen in Deutschland neu infiziert. Zwei Drittel der Betroffenen ist berufstätig. Ein Outing kommt für viele auch heute nicht infrage. Die Angst vor einer Stigmatisierung ist viel zu groß.

Alle Beiträge der Serie zum 25. Jubiläum der StZ-Wissenschaftsseite

Eckpfeiler der Hilfe

1983 Die erste Erste Selbsthilfegruppe gründet sich in Berlin, andere Städte ziehen rasch nach.

1985 Erste internationale Aidskonferenz in Atlanta

1987 Die Bundesregierung startet das Programm "Gib Aids keine Chance".

1988 Die Vereinten Nationen rufen am 1. Dezember den Welt-Aids-Tag aus.

1991 Die rote Schleife wird zum Symbol der Solidarität mit Betroffenen.