Das Literaturmuseum der Moderne erzählt in Marbach von den Abenteuern der Bücher auf ihrem Weg durch die Welt. Der Raum, den sie dabei durchmessen, zeigt sich so grenzenlos wie die Inspiration der Kuratoren.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Der bewegte Mann“ ist ein Comic von Ralf König, der lustvoll das Chaos von Trieben und Gefühlen zwischen Männern und Männern und Frauen entfaltet. Aber was ist schon ein bewegter Mann gegen ein bewegtes Buch? Welche Spuren von Lastern und Lüsten lassen sich ihm ablesen? „Sie werden schreckliche Dinge sehen“, verheißt der Direktor des Marbacher Literaturarchivs, Ulrich Raulff, bei der Vorstellung der neuen Wechselausstellung des Literaturmuseums der Moderne, die eben jenen irritierenden Titel trägt: „Das bewegte Buch“. Von promiskuitiven Lektüren ist da die Rede, von Indienstnahmen aller Art. Hat die Wanderhure nun auch Marbach erreicht? Nein, dafür wird „Madame Bovarys“ Leseloch gezeigt, das Liebesversteck von Hölderlins „Hyperion“ und Kurven, die die strengen Gesetze der Trigonometrie frivol untergraben. „Technisches Handbuch der Sinus- und Cosinuskurven“ ist auf einem großformatigen Band zu lesen, darunter: „Einfache Darstellungen philosophisch kommentiert“. Im Inneren aber purzeln dem Betrachter nackte Wahrheiten entgegen. Der Bertelsmann Buchclub tarnte einst mit derart keusch-geometrischer Komik „Meisterwerke der Aktfotografie“.

 

Um was geht es also in der neuen Ausstellung? Gewiss nicht um Schweinkram – und doch frönen die Marbacher ausgiebig ihrer Lust am Materiellen, Sinnlichen, am Korpus der Literatur. Und weil niemand damit einen ähnlich intimen Umgang pflegt, ist eine anregende Ausstellung daraus geworden. „Das bewegte Buch“ erzählt an ausgewählten Beispielen von den Abenteuern der Bücher auf ihrem Weg durch die Welt, von ihren Verletzungen, Makeln und Falten. Den hauseigenen Bibliotheksbeständen wurden besonders wanderlustige von auswärts zugesellt: ein Teil der Fundsammlung der Deutschen Bahn und die Kathmandu-Library, welche die Autoren Eckhart Nickel und Christian Kracht aus dem zusammengetragen haben, was aus Rucksäcken von Himalaja-Reisenden seinen Weg in die Antiquariate der nepalesischen Hauptstadt gefunden hat. Neben erwartbarer Hippie-Literatur findet sich darunter Erstaunliches, etwa das überraschende „Buch deutscher Reden und Rufe“ – und wer, bitte, hat Huysmans Décadence-Bibel auf das Dach der Welt geschleppt?

Von Raubdrucken und Räubern

Bemerkenswert auch, was die Leute im Zug so mit sich führen, um es zu lesen – und zu vergessen. Richard David Prechts „Anna, die Schule und der liebe Gott“ ragt aus einem der prall gefüllten Kartons, eine hebräische Bibel, großformatige Kochlöffel-Literatur und kleinformatige Peitschen-Breviere. So finden schließlich auch die „Shades of Grey“ nach Marbach.

Bücher als Container für Fantasien aller Art: das Material, das die Marbacher Ideen-Spediteure vertreiben, reicht von den noch unberührten – eingeschweißten – Moleskine-Notizbüchern, mit denen der Autor Christoph Ransmayr erwartungsfroh seine Reisen antritt, bis zu lexikalischen Phallusdarstellungen, von denen sich der Lyriker Peter Rühmkorf befruchten ließ. Man passiert auch die gefährlichen Zonen urheberrechtlicher Wegelagerer: Raubdrucke von Schillers „Räubern“ veranschaulichen die zeitweise höchst volatile, sprich vogelfreie, Verbindung zwischen Text und Buch. Doch selbst „die vollständig aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“: Auch vor Adorno/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, die mit diesem imposanten Satz beginnt, macht der Gedankenraub nicht halt. Im Gegenteil: er wird in den achtundsechziger Jahren zur programmatisch geübten Praxis.

Asoziale Spatzenhirne

Das führt stracks in den Einzugsbereich von Justizhaftanstalten. Über tausend Bände aus der Gefangenenbibliothek der JVA Münster schmoren in den Grüften des Archivs. Einige bekommen Freigang in dieser Ausstellung. Freuds Schriften freilich kommen ziemlich zerzaust an. Übrig sind nur noch die Buchdeckel, auf die ein erzürnter Häftling die psychoanalytisch aufschlussreichen Worte gekritzelt hat: „Danke dem kleinen Wixer, der die Seiten herausgerissen hat. Hast wohl Angst, dass mal wer dahinter kommt, was für ’nen armes Würstchen du bist. Asoziales Spatzenhirn!!“ Vermutlich zählt solcher Vandalismus zu den schrecklichen Dingen, die der Buchliebhaber Raulff verheißen hat.

Subtiler sind die Eingriffe der literarischen Superhirne, die sich in den Spezialsammlungen finden, über die Marbach verfügt. Der Leser Paul Celan interpunktiert Gedichte von Nelly Sachs auf seine Weise um, Martin Heidegger zählt mit spitzem Bleistift Worte, und W. G. Sebald hat neben Fahrscheinen und Flugtickets zwischen die Seiten seiner Bücher einen ganzen herbstlichen Blätterwald gepresst. Mit bibliothekarischer Akribie wird das getrocknete Laub den literarischen Fundstellen zugeordnet: ein Ahornblatt Kafkas Briefen an Felice Bauer, ein Buchenblatt Peter Handkes „Nachmittag eines Schriftstellers“. Wer soll das alles lesen? Das hat sich vermutlich auch Gottfried Benn gedacht. In seinen Büchern sind vor allem die Nichtgebrauchsspuren verräterisch. Nur wenige hat er weiter gelesen als bis zum ersten Drittel, wie nicht aufgeschnittene Seiten zeigen.

Phantomschmerz des Lebens

Wie ein Arzneischrank steht eine Lazarettbibliothek in einem Raum. Bücher gegen den realen und imaginären Phantomschmerz des Lebens. Ob das „Soldatenkleeblatt“ oder „Deutsche Volkslieder“ dagegen helfen? Alle Arten von Übergängen werden hier beleuchtet, existenzielle wie bibliomanische: Aus selbst illuminierten Blättern fertigt Peter Weiss das Taschenbuch einer Hesse-Erzählung , aus Feldpostheften werden Folianten, aus Seitenecken Eselsohren, aus unendlichen Blogs endliche Behältnisse wie der Band „Abfall für alle“, in dem der frische Büchnerpreisträger Rainald Goetz die digitalen Geistesblitze eines Jahres entsorgt und verewigt hat.

Der Raum des Buches ist so grenzenlos wie die Fantasie der Kuratoren Heike Gfrereis und Dietmar Jaegle. Auf drei große Themen-Stationen haben sie ihre Gedankenströme verteilt: Höhle und Falte, Untergrund und Blatt, Löcher und Schneisen. Wer sich in diese intellektuell durchdrungenen Zonen wagt, wird entrückt. Die kinetische Energie bewegter Bücher teilt sich dem bewegten Leser mit. So ist diese Ausstellung eine besondere Art der Road-Novel. Sie bringt zum Sprechen, was bloße Texte für gewöhnlich verschweigen.