Es gibt neue Vorwürfe wegen sexueller Gewalt gegen den Film- und Theaterregisseur Dieter Wedel. Es geht um Jahrzehnte zurückliegende Fälle. Allerdings kommt nun die Frage auf, ob ein öffentlich-rechtlicher Sender damals schon von den Vorwürfen der Schauspielerinnen erfuhr, aber untätig blieb.

Stuttgart - Es kommt nicht oft vor, dass das Boulevardblatt „Bild“ sich auf etwas bezieht, das schon in der Wochenzeitung „Die Zeit“ stand, der Hauspostille der gebildeten Kreise. Gerade aber ist das der Fall, wobei die sonst nicht immer übermäßig um Nuancen besorgte „Bild“-Redaktion ihrem Bericht online eine Erklärung beifügt, die das Heikle der gesamten Berichterstattung deutlich macht.

 

„Die Zeit“ breitet in einem langen Dossier neue Vorwürfe sexueller Belästigung, vollendeter Vergewaltigung sowie fortgesetzten Mobbings gegen den TV- und Theaterregisseur Dieter Wedel aus, bezogen auf Vorfälle in den Jahren zwischen 1975 und 1997. „Bild“ zitiert – und betont ungewohnt vorsichtig: „Dennoch ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein großer Teil dieser Vorwürfe juristisch verjährt ist und Dieter Wedel deswegen nicht die Möglichkeit erhalten wird, sich in einem ordentlichen Gerichtsverfahren dagegen zu verteidigen.“

Jury der öffentlichen Meinung

Begonnen hat alles mit einem früheren, vor drei Wochen erschienen „Zeit“-Artikel, der ebenfalls Schauspielerinnen zu Wort kommen ließ, die Wedel sexuelle Belästigungen und Gewalt vorwerfen. Der Aufsehen erregende Text wurde vielfach als das längst überfällige Überspringen des Metoo-Phänomens nach Deutschland gewertet: Sexuelle Gewalt wird nicht mehr verschwiegen, aber auch nicht vor Gerichten verhandelt, sondern vor der Massenjury der öffentlichen Meinung. Am Montag dieser Woche ist der 75-jährige Wedel von seinem Posten als Intendant der Bad Hersfelder Festspiele zurückgetreten. Nach Angaben seines Anwalts liegt er mit Herzbeschwerden im Krankenhaus.

Der „Zeit“ liegen eidesstattliche Erklärungen der Schauspielerinnen vor, aber auch Wedel legte eine solche ab: Die geschilderten Vorfälle habe es nie gegeben. Die erste Berichterstattung, erklärt die „Zeit“-Redaktion, habe dazu geführt, dass nun weitere Schauspielerinnen bereit seien, ihre Erlebnisse mit Wedel öffentlich zu machen. Im neuen Dossier erzählt unter anderen Esther Gemsch, wie Wedel sie während der Dreharbeiten zum TV-Mehrteiler „Bretter, die die Welt bedeuten“ 1980 in einem Hotelzimmer so attackiert und zu vergewaltigen versucht habe, dass einer ihrer Halswirbel schwer verletzt wurde und ihre Rolle neu besetzt werden musste.

Strafen für Zurückweisungen

Gemschs Nachfolgerin bei dem Projekt, Ute Christensen, berichtet ebenso wie Gemsch vom Bedrängtwerden durch den Regisseur, von Aufforderungen zum Sex, deren Zurückweisung abgestraft worden sei durch fortgesetzte Demütigung und Herabsetzung bei der Arbeit sowie der Drohung mit Vernichtung ihrer beruflichen Existenz. Nach 40 Drehtagen erlitt Christensen damals einen Nervenzusammenbruch und eine Fehlgeburt.

Wiederholen die neuen Vorwürfe also lediglich die Konfrontation der vergangenen Wochen, stehen Aussage gegen Aussage über lange zurückliegende Vorgänge unter vier Augen? Nein, der Fall liegt diesmal anders. Und das nicht nur, weil sich nun etliche Menschen aus dem Umfeld der Betroffenen melden, die von deren damaliger Verstörung berichten, oder davon, dass sie schon vor Jahren oder Jahrzehnten im Vertrauen von den angeblichen Übergriffen erfahren hätten.

Diesmal werden noch zwei andere wichtige Punkte angesprochen: Zum einen das schweigende Mitwissen einer großen Schar von Arbeitskollegen, die aus Angst um die eigene Karriere oder aus Furcht, selbst gemobbt zu werden, nur heimlich Trost gespendet haben sollen. Zum anderen die seltsame Untätigkeit einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt, als beim Dreh von „Bretter, die die Welt bedeuten“ Vorwürfe sexueller Gewalt bis in die in die Büros des Senders drangen.

Hauptsache, das Finanzielle ist geklärt

„Bretter, die die Welt bedeuten“, war eine Produktion des Saarländischen Rundfunks (SR), abgewickelt über dessen hundertprozentige Tochter Telefilm Saar. Esther Gemschs Anwalt hat sich 1981 laut Darstellung in der „Zeit“ mit dem Hinweis auf „versuchte Notzucht, vorsätzliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung und Beleidigung“ an Telefilm Saar gewandt und beklagt, seiner Mandantin sei zunächst Schutz und Unterstützung zugesagt, dann aber nicht gewährt worden.

Das Problem war aktenkundig

Der Saarländische Rundfunk selbst wiederum machte seltsame Produktionsumstände aktenkundig, als nachgehakt wurde, warum die Kosten denn aus dem Ruder gelaufen seien. Die „Zeit“ hat im internen Bericht der Zentralrevision des SR den Vermerk gefunden, es habe eben eine kostensteigernde Krankheit und Umbesetzung gegeben. Ihre Verletzung sei nach Angaben der Hauptdarstellerin die Folge einer gewaltsamen sexuellen Annäherung durch Dieter Wedel gewesen. Offensichtlich sind damals keine weiteren Schritte eingeleitet worden, die finanzielle Frage war ja geklärt.

Die Frage, ob Dieter Wedel tatsächlich wie geschildert schikanös und gewalttätig war, muss bei der neuen Fallbetrachtung also gar nicht im Vordergrund stehen. Damals wurden Vorwürfe über unhaltbare Zustände und massive Übergriffe laut, sie waren offenbar Tagesgespräch am Set, und eine Menge Menschen nahm sie dort sofort für bare Münze. Die Vorwürfe drangen auch in der Hierarchie aufwärts. Sie hätten nachhaltig geklärt werden müssen – zum Schutz der Schauspielerinnen, aber eventuell eben auch zum Schutz von Dieter Wedel. Der Saarländische Rundfunk hat mittlerweile eine „Task Force“ gebildet, um die internen Vorgänge aufzuklären.

Was da beim deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen sichtbar wird, ist das erste Anzeichen für ein System des Wegschauens, wie es in der US-Filmindustrie mit den Vorwürfen gegen den Produzenten Harvey Weinstein ans Licht kam: Über sexuelle Belästigung oder Gewalt wird hinweg gesehen, Hauptsache, der Produktionsapparat flutscht.