Immer nur Geld in die neuen Bundesländer zu pumpen, wird nicht an Zustand der Gesellschaft ändern, sagt Ines Geipel. Zwei Diktaturen, über die nicht gesprochen wird, sind für sie eine toxische Mischung.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Dresden - Ines Geipel redet leise. So leise, dass die Gespräche über die Brennstoffzelle und andere Visionen von Zukunft vom Nebentisch für einen Moment das Gespräch übertönen. Obwohl auch sie, wenn auch verhalten, über einen möglichen Weg aus einer bedrohlichen Gegenwart spricht. Die Umfragen sehen die AfD in den neuen Bundesländern als stärkste politische Kraft. Der Verfassungsschutz ist besorgt, wie schnell sich wie im vergangenen Sommer in Chemnitz eine große Anzahl an Rechtsextremisten mobilisieren ließ. „Es zeigt, wie viel altes Gift sich durch sehr nervöses politische Verhältnisse abrufen lässt“, sagt Geipel.

 

Man könne Millionen in den Osten pumpen, die Binnenphysis des Ostens werde das nicht verändern, ist Geipel überzeugt. Ihr Vorschlag: In den Familien muss endlich darüber geredet werden, was die vorigen Generation unter den verschiedenen politischen Vorzeichen getan oder erlitten haben.

Abschied vom Bruder

„Das Problem ist, dass wir lange eine krude Identitätspolitik gefahren haben“, sagt die Frau, die seit drei Jahrzehnten so viel Kraft darin investiert hat, Dinge zutage zu fördern, um Unebenheiten in der Gesellschaft offenzulegen. Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, Leichtathletin in der DDR-Nationalmannschaft, Dopingopfer und sogenannter Republikflüchtling, Schriftstellerin und unerbittliche Aufklärerin von DDR-Unrecht, klingt ein wenig resignativ, vielleicht auch nur ehrlich, vor allem aber klingt sie sehr, sehr müde. Ihr jüngstes Buch „Umkämpfte Zone“ war ihr mit Sicherheit schmerzlichstes. Es geht um das Leben mit und den Abschied von ihrem Bruder Robby.

Am 6. Januar 2018 ist er gestorben. Rasend schnell hat ihn ein Hirntumor aus dem Leben gerissen. Das Geschwisterpaar hatte einen Monat Zeit, sich voneinander zu verabschieden. Ines Geipel besuchte ihre Bruder täglich. Sie ist in Trauer. 15 Monate sind keine Zeit. Der Bruder hat sie im letzten Stadium seiner Krankheit zu sich gerufen, nachdem die beiden fünf Jahre nichts voneinander gehört hatten. „Aber wir hatten so etwas Strumpflatschiges“, sagt Geipel. Soll heißen: Sofort war zwischen den beiden wieder die alte Nähe.

Eine Nähe, die sie in ihrer Kindheit hat gemeinsam überleben lassen – als Tochter und Sohn eines Agenten der Staatssicherheit, der unter acht verschiedenen Identitäten im Auftrag der DDR im Westen unterwegs war, Flüchtlinge ausspionierte und seine Kinder mit brutaler Gewalt überzog. Die Tochter entkam der Gewalt, als sie mit 14 in ein Internat geschickt wurde und das Laufen für sich entdeckte.

Die beiden Großväter: SS-Mann und Vermisster

Einmal mehr versucht Geipel, den Hass im Osten zu erklären. Dass die gesellschaftlich brisante auch eine sehr private Erzählung ist, war kräftezehrend. Denn die private Geschichte nimmt kein gutes Ende, geht tödlich aus. Sie ist aber auch der Versuch „die beiden deutschen Diktaturen als Gewaltgeschichte zu verstehen. Mit viel struktureller Gewalt“. Im Großen wie im Kleinen.

Dazu ist Geipel tief eingetaucht in die Geschichte des Landes und ihrer Familie. Zwangsläufig. Da ist der Großvater mütterlicherseits, der als SS-Mann in Riga war und mit seiner Familie die Wohnung von deportierten Juden bezog. Ein Lebensabschnitt, der nach Kriegsende in den Familiensafe „absinterte“, wie sie sagt. Da ist die Großmutter väterlicherseits, an die sich ihre Enkelin als beharrlich auf ihren vermissten Mann wartende Frau erinnert. Und da sind die Eltern, die als Kriegskinder ins sozialistische Leben schlüpften, die Erfahrungen von Krieg und Gewalt wegpackten.

Weg von der Pamperpolitik

Für Geipel ist das Schweigen über den Nationalsozialismus und das Schweigen der Moskau-Rückkehrer über den sowjetischen Terror ein Pakt der gegenseitigen Entlastung. Sie nennt es auch „die Hardware für das Angstsystem DDR“. Beide deutschen Diktaturen arbeiteten mit Angst und Gewalt oder der Androhung von Gewalt. Ein guter Moment ist für sie nun, wenn junge Besucher ihrer Lesungen sagen: „Jetzt verstehen wir, warum bei uns so viel geschwiegen wird.“

Im Großen mündet das für Geipel in der Frage: „Was macht es mit einem Volk, wenn es Trauer unter Verschluss hält?“. Es fehlten Soldatenfriedhöfe in der früheren DDR, der Zugang zu Archiven über die Kriegsbiografien der Väter und Großväter. Für Geipel ist das zusammen mit der Sprachlosigkeit in den Familien eine toxische Mischung. Wie das politisch ausgeht, „entziehe sich meiner Deutung“. Aber ein bisschen politische Verantwortung „kann man dem Osten schon zumuten“. Weg von der Politik der Fürsorge. Da wird aus Müdigkeit wieder die Geipel’sche Wut.