Das Berliner Nachtleben ist fest in schwäbischer Hand. Exilanten wie Özgur Yelmen geben den Takt vor. Selbst Menschen mit Münsteraner Migrationshintergrund wie die DJ-Legende Westbam sorgen sich mittlerweile um Nachwuchs aus Stuttgart.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Berlin - Wenn es dunkel wird, ist Berlin fest in schwäbischer Hand. Auch in dieser Samstagnacht: In der King-Size-Bar geht es um die wirklich wichtigen Themen. Ist Mystikal der James Brown des Rap? Hilft Gin gegen Klaustrophobie? Der Torstraßen-Adel aus Mitte, bestehend aus Erben und Agentur-Schnöseln, tanzt, als wäre es die letzte Nacht auf Erden. Den Takt geben zwei Südländer mit türkischen und französischen Wurzeln vor, die aus Stuttgart-Weilimdorf und Altensteig im Nordschwarzwald stammen.

 

Die King-Size-Bar gilt als Hipster-Paradies, Abriss-Aufriss-Schuppen und Laufsteg im Geschlossen-wegen-Überfüllung-Format in einem. So viele Menschen auf so wenig Quadratmetern können weder zulässig noch gesund sein. Wie immer in einer solchen Sardinenbüchse der Jeunesse dorée ist der beste Platz der neben dem DJ-Pult, der einzige halbe Quadratmeter, den man sich nicht mit einer Agenturchefin oder einem Start-up-Entwickler teilen muss. Es gilt, diesen Platz bis zum letzten Longdrink zu verteidigen.

Özgür Yelmen: „Ohne Südländer würde in Berlin nichts gehen“

Das DJ-Team ist der lebende Beweis für eine steile These: Ohne Schwaben würde das Berliner Nachtleben zusammenbrechen. Die Herren Özgur „Passion“ Yelmen und Jean-Christoph „Schowi“ Ritter spielen ganz groß auf. Zwei Exil-Stuttgarter, die Teil eines popkulturellen Netzwerkes sind, das aus schwäbischen Emigranten besteht. Oder, um es mit Yelmen zu sagen: „Ohne uns Südländer würde hier gar nichts gehen.“ Wobei Südländer hier mit Baden-Württemberger gleichzusetzen ist.

Neben den beiden genannten DJs lassen sich unzählige weitere Pop-Protagonisten finden, die wissen, wie man Spätzle selber macht. Als da wären die Exil-Stuttgarter Thomas Burchia alias DJ Thomilla, Produzent, unter anderem Fantastische Vier. Michi Beck, Fanta-4-Mitglied. Martin Eyerer, DJ und Produzent. Max Herre, Musiker. Fetsum Sebhat, Sänger. Marcus Staiger, geboren in Leonberg, Abitur in Kornwestheim, gilt als Erfinder des Gangster-Raps aus Berlin.

Vom Hip-Hop-DJ zum gefragten Produzenten elektronischer Musik

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Woran aber liegt es, dass so viele Ex-Stuttgarter und andere Südländle-Exilanten in Berlin die Strippen ziehen? Fragen wir in dieser Sache einen, der unparteiisch ist und den Ruf eines Nachtleben-Philosophen innehat: den in Würde gealterten DJ Westbam. Westbam, bürgerlich Maximilian Lenz, geboren im westfälischen Münster und seit über 30 Jahren in Berlin, wohnt in Prenzlauer Berg, genannt „Pregnancy Hills“, dem Nukleus der schwäbischen Fruchtbarkeit in Berlin. „Es ist wirklich so: Ohne die schaffige Mentalität der Schwaben wäre Berlin verloren. Die Hauptstadtbewohner haben es sich zu lange in einer bequemen Nehmer-Rolle eingerichtet. Und die besten Geber seid eben Ihr.“

Der derzeit erfolgreichste schwäbische Pop-Export ist der oben erwähnte Özgür Yelmen. Als Produzent „Ninetoes“ gehört er zu den gefragtesten Playern der elektronischen Musikszene. Ninetoes übrigens deshalb, weil ihm als Kind nach einem Unfall der rechte große Zeh amputiert werden musste. Am Tag nach der eingangs beschriebenen wilden Nacht im King Size bittet er in den nagelneuen Red-Bull-Studios in Kreuzberg zum Gespräch. Die Location ist ein ehemaliges Umspannwerk, erbaut im Jahr 1925. Der Brausehersteller hat sich mit einem komplett mit Kupferdraht verkleideten Raum-im-Raum-Konzept nicht lumpen lassen.

Im Vielflieger-Vielaufleger Modus von Berlin aus unterwegs

Özgür Yelmen nimmt sich im Studio eine Kiwi und einen Apfel, um auf infame Weise das Klischee des verdrogten Popstars zu konterkarieren. Nach seinem Auftritt im King Size war er erst um 6 Uhr im Bett. „Ich arbeite am liebsten nachts, da stört das Telefon nicht mehr so häufig.“

Von Dezember bis März war Yelmen auf Welttournee, Mexiko, Australien, Vielflieger-Vielaufleger-Programm. Bei einer Gage, die mittlerweile bei 1500 Euro pro Abend losgeht. „Sky ist the limit nach oben“, sagt Yelmen, und bei ihm klingt das nicht aufschneiderisch, sondern fast schon bausparerisch. Für den 37-Jährigen ist der Begriff „auf dem Teppich geblieben“ erfunden worden. Dabei geht Yelmens Märchen gerade in die nächste Runde: Nachdem er 2013 mit seiner ersten House-Produktion „Finder“ als Hip-Hop-DJ aus dem Stand eine Eintrittskarte für die Clubs auf Ibiza gewonnen hatte, stehen nun die nächsten Schritte an. „Ich will kein One-Hit-Wonder sein.“ Eine neue EP auf dem Label Kling Klong ist erschienen, eine weitere folgt bei Sayed Rec aus dem Umfeld von Techno-Legende Carl Cox in London. Gemanagt wird Yelmen mittlerweile von Louis Osbourne, dem ältesten Sohn von Ozzy Osbourne, der selbst lange als DJ aktiv war.

Besser als Schule: Ausbildung bei Produzent Thomilla

Yelmens Zugang zur Musik klingt wie aus einer Muster-DJ-Biographie herauskopiert. Der Onkel war DJ, der türkische Musik aufgelegt hat. Im Alter von vier bekam er seine erste LP geschenkt – Thriller von Michael Jackson. Mit 14 wurde er dann vom Wu-Tang-Clan mit dem Hip-Hop-Virus infiziert, KRS One, die Beastie Boys oder Nas hießen die Helden seiner Jugend. „Ich habe kurz versucht, zu rappen, das war aber nichts.“ Dabei hatte Yelmen als Tenor in Altensteig im Chor gesungen, „als erster Türke“, wie er lächelnd anmerkt. „Mit 18 bin ich nur noch in Stuttgart abgehangen, meine ersten Technics-Plattenspieler hatte ich mir zuvor über das Zeitungsaustragen verdient.“ Von der Hauptschule hatte er es bis auf das Wirtschaftsgymnasium geschafft. „Das Abi habe ich mir aber versaut, weil ich nur noch aufgelegt habe.“ Zum Glück hat er nichts Anständiges gelernt.

Yelmen durchlief in Stuttgart die harte Local-DJ-Schule, von Zap über N-Pir und Proton bis zum legendären Hip-Hop-Donnerstag im Hi und schließlich im Perkins Park bei der samstäglichen Supreme-Reihe. Zu der Zeit hatte ihn bereits Thomilla unter seine Fittiche genommen, Fanta-Vier-Mastermind. Von ihm lernte er das Produzieren. „Das war die Ausbildung, die ich in schulischer Sicht nicht hatte.“

Die Möglichkeiten eines Deutsch-Hip-Hop-DJs sind eingeschränkt

Später lernte Yelmen Schowi kennen und gründete mit ihm das Produzentenduo Bassileuro. Mit Remixen von Jan Delay feierten die beiden Achtungserfolge. Ihre Version von „Oh Jonny“ wurde als Free-Download eine Viertelmillion-mal heruntergeladen. Zu der Zeit legte Yelmen die Hip-Hop-Scheuklappen ab. Mit Bassileuro lernte er die Welt der elektronischen Musik kennen. „Wenn man sich auf Hip-Hop aus Deutschland beschränkt, ist das wie bei einem Fisch, der nicht aus seinem Aquarium herauskommt.“

2010 und 2011 wurde es ernster mit seiner Distanz zu Rap, mittwochs im Stuttgarter Dilayla konnte er spielen, auf was er Lust hatte: Deephouse. Seine erste Produktion „Finder“ war 2013 schließlich in allen DJ-Charts auf Platz 1. Bis September legte er als DJ Passion auf, Hip-Hop, ab da nur noch als Ninetoes elektronische Musik. In die hat er sich jetzt festgebissen. Und wenn der Traum doch irgendwann ausgeträumt ist? „Dann ziehe ich zurück nach Bad Cannstatt“, sagt Yelmen grinsend.

Küchenparty in der DJ-WG in Kreuzberg

Jetzt geht es aber erst einmal in seine Berliner Bleibe. Für Yelmen sind es nur 300 Meter von den Red-Bull-Studios zur Pop-Wohngemeinschaft in Kreuzberg. Natürlich ist auch die WG schwäbisch. Yelmen lebt mit seinem musikalischen Ehepartner Jean-Christoph Ritter zusammen, einst Frontmann der legendären Stuttgarter Hip-Hop-Band Massive Töne, heute auflegende Ich-AG und It-Boy von Berlin Mitte. In der Küche stehen an der Stelle, an der andere Menschen ein Schneidebrett für die Zubereitung des letzten Abendmahls haben, zwei Schallplattenspieler. Da bekommt der Begriff Küchenparty eine andere Qualität.

Zum Schluss noch einmal zurück zur Eingangsthese, dass das Berliner Nachtleben fest in Stuttgarter Hand ist. Wie wissenschaftlich belastbar ist diese Vermutung? „Die Baden-Württemberger in Berlin sind coole Dudes, die auch schaffen können. Die Berliner dagegen, nun, ja, sind schon sehr entspannt. Ohne uns Südländer würde hier gar nichts gehen“, ist sich Özgür Yelmen sicher, und verabschiedet sich. Das Schlusswort gehört dem Westfalen Westbam. Der sagt nach einem Teller Pasta bei seinem Stamm-Italiener in Prenzlauer Berg: „Wenn alle Baden-Württemberger Berlin verlassen, ist diese Stadt wieder auf dem Stand von 1985. Was mir daher wirklich Sorgen macht: Was ist mit diesem Feinstaub los bei euch in Stuttgart. Macht der nicht unfruchtbar? Das geht nicht. Wir brauchen gesunden schwäbischen Nachwuchs.“