Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock liebt die Oper – vor allem das Geheimnisvolle und Unfassbare daran. Ihre Räume suchen im schmuddeligen Alltag nach Momenten der Magie. Jetzt hat sie Bühnenbild und Kostüme für Tschaikowskys „Pique Dame“ an der Oper Stuttgart entworfen.

Stuttgart - Der Rahmen ist groß und golden. Am Ende des langen Abends – Händels „Alcina“, eine der Kultinszenierungen des Duos Jossi Wieler und Sergio Morabito – umfasst er das gefrorene Bild einer unglaublichen Hochzeitsgesellschaft. Zuvor hat man durch ihn hindurchgeschaut in einen Raum dahinter: Da trennte er Vergangenes von Gegenwärtigem, Reales von Surrealem, im Handumdrehen wechselte sein Inneres vom Bild zum Gespiegelten und zurück. Anna Viebrock hat das Bühnenbild entworfen, das der Oper hier Richtung und Zauber gibt, und in seiner Kraft, Fantasie und Eigenart ist dieser Entwurf einer ihrer stärksten. Die Zauberin Alcina zaubert an der Oper Stuttgart vor allem, weil Viebrock sie dazu ermächtigt.

 

Jetzt hat die 1951 in Frankfurt geborene Künstlerin die Ausstattung für die Neuinszenierung von Tschaikowskys Oper „Pique Dame“ übernommen – wieder für Wieler und Morabito, mit denen sie seit deren Operndebüt mit Mozarts „La Clemenza di Tito“ 1994 zusammenarbeitet. Die Regisseure und die Bühnenbildnerin haben sich gegenseitig geprägt, bei Viebrock kam Christoph Marthaler als zweiter langjähriger künstlerischer Begleiter hinzu.

Behutsamkeit und leise Fragen

Anna Viebrock arbeitet auch im Schauspiel. Aber wenn sie von der Oper spricht, vor allem davon, wie „dieser unsagbare Moment in der Musik“ sie fasziniere, dann spürt man, dass sie im Musiktheater ganz besonders zu Hause ist. „Eine Oper einfach ins Heute zu holen und nichts anderes damit zu machen“, sagt sie, „das geht meistens nicht auf. Es muss bestimmte Dinge geben, die die Zeit sprengen oder sich verwandeln: weil die Musik einfach noch etwas anderes erzählt. Deshalb versuche ich, der Magie Raum zu geben. Und wenn dann die Zuschauer von der Musik berührt werden, dann hat die Bühne dazu vielleicht auch ein bisschen beigetragen.“

Tatsächlich hat die Annäherung von Wieler/Morabito und Viebrock so viel Gemeinsames, dass die fertige Produktion am Ende wie ein zusammengewachsenes Ganzes wirkt. Da ist eine Behutsamkeit im Umgang mit Kunst, die weniger mit Behauptungen arbeitet als mit leisen Fragen. Da ist ein großes Interesse für die geschichtlichen Hintergründe der Werke – und für Literatur, die in ihrer zeitlichen und ästhetischen Nähe entstand. So wie Wielers und Morabitos Figuren eine Geschichte haben, die ihre Aktionen in der Gegenwart mit bedingt, haben Viebrocks Räume eine Geschichte. „Manchmal“, sagt sie, „wirken diese Räume, als habe es sie schon lange vor Opernbeginn gegeben. Dann fallen sie niemandem auf, kein Kritiker schreibt darüber, aber für mich ist das ein Qualitätsbeweis, denn dann scheinen sie zu stimmen.“

Die Liebe zu Hitchcock

In ihren architektonisch geprägten Bühnenräumen liebt Anna Viebrock das Spiel mit irritierenden Details und mit Mehrdeutigem. „Meine Räume“, sagt sie, „sind meist irgendwo dazwischen. Alles andere finde ich total langweilig. Ich baue doch keine Filmkulissen!“ Deshalb gibt es bei ihr Türen ohne Klinke, Fenster ohne Aussicht, und ihre immer leicht angegammelten, hermetischen Mehrzweckräume, die oft ziemlich hermetische Innenräume sind, haben gerne mal einen Balkon. Sie haben etwas von Collagen. „Ich mag es sehr“, sagt Viebrock, „wenn das Publikum sich über Details Gedanken macht, die es als wichtig empfindet, obwohl sie vielleicht gar nicht so gedacht waren.“ Hitchcock hat für derartige Objekte den Begriff MacGuffin geprägt. Anna Viebrock liebt MacGuffins.

Vielleicht ist das Telefon ein solches, das bei „Pique Dame“ an der bröckelnden Fassade eines alten Palais hängt. Vielleicht klingelt es irgendwann. Aber vielleicht hängt es auch einfach nur da, weil man draufgucken und sich fragen soll, warum. Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock sind gemeinsam nach St. Petersburg gefahren, wo Puschkins Novelle „Pique Dame“ spielt und wo Tschaikowskys Oper 1890 auch uraufgeführt wurde; Viebrock hat dort – „oft heimlich“ – fotografiert und sich von Gebäuden und Menschen inspirieren lassen. In Stuttgart wird deshalb der German ein ähnliches T-Shirt tragen wie jener Student, der das Trio auf nicht immer legalen Wegen durch Treppenhäuser und Hinterhöfe führte. Mit einem Einheitsbühnenbild kam die Bühnenbildnerin jetzt nicht weiter, deshalb hat sie erstmals in Stuttgart eine Drehbühne bebaut – „weil German in dieser Oper immer unterwegs ist, und ich fand die Vorstellung reizvoll, dass man ihm wie gehetzt immerzu hinterher rennt.“

Viele falsche Traditionen

Anna Viebrock hat schon achtzehn Mal selbst inszeniert. Das wird sie auch wieder tun. Aber für ihre Studenten an der Wiener Akademie der Schönen Künste, wo sie seit 2013 unterrichtet, möchte sie auch Zeit haben. Was die mitbringen müssen? Fantasie, Neugier, räumliches Denken, „und bloß keinen Kitsch“. Vor allem „interessante Persönlichkeiten“ will sie ausbilden. Also Bühnenbildner, deren Werke ebenbürtige Partner der Inszenierung sind – oder auch mal deren Gegner, indem sie etwas Eigenes erzählen oder gar Widerstand bieten. „Ich habe meine Arbeit nie als dienend empfunden“, sagt Anna Viebrock. Dann gibt sie noch zu, dass sie Tschaikowsky ein wenig kitschig fand – früher. „Man muss immer wieder hinterfragen, was man denkt und tut. Es gibt viele falsche Traditionen. Und Irrtümer, die sich fortpflanzen“: Sagt’s, und wer ihr hinterherschaut, mag denken, dass sie jetzt mit ihrem Blümchenrock und der gestreiften Bluse wohl zurück eilt in eines ihrer Bühnenbilder, dem sie just entsprang.