Die Türkei geht mit aller Härte gegen Deutsche vor, die sie der illegalen Parteinahme für verbotene Organisationen verdächtigt. Die Verfahrren sind rechtsstaatlich fragwürdig. Besonders berührend: das Schicksal der Ulmerin Mesale Tolu.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ulm/Ankara - Mesale Tolu, Deniz Yücel, Peter Steudtner – diese drei Namen stehen beispielhaft für jene Deutschen, die in der Türkei inhaftiert sind. Mesale Tolu, die unter dem Vorwurf der Terrorpropaganda in Istanbul festgenommen und in ein Frauengefängnis gebracht wurde, wird nun als erste an diesem Mittwoch vor Gericht gestellt. Wenige Tage zuvor hat die Familie noch einmal mobilgemacht. Sicher in der Hoffnung, der geäußerte Schmerz über die Inhaftierung der Tochter würde bis nach Ankara gehört; wahrscheinlich auch, um sich selber zu versichern, alles getan zu haben, um die Tochter und Schwester zu entlasten. Allerdings haben türkische Staatsvertreter noch nie ein Zeichen des Einlenkens erkennen lassen, seit die 33-jährige Mutter eines kleines Sohnes am frühen Morgen des 30. April aus ihrer Wohnung geholt wurde.

 

Auch der zweijährige Sohn lebt in der Zelle

Jeden Montag besuche er seine Tochter im Frauengefängnis, sagte am Samstag Ali Riza, der in Neu-Ulm lebende, aber zum Pendler zwischen zwei Ländern gewordene Vater Mesale Tolus, am Rand einer Solidaritätsveranstaltung im Ulmer Kornhaus. Mit 17 anderen Frauen müsse sich seine Tochter die Zelle teilen. Auch der zweijährige Serkan, sein Enkel, lebt mit seiner Mutter in der Haftanstalt, hat dort unter anderem das Recht auf eine Kindergartenbetreuung. Aber Spielzeug vom Großvater darf der Junge nicht bekommen. „Ich darf ihm nichts mitbringen“, so Ali Riza am Rand des Ulmer Solidaritätstreffens, zu dem sich rund 300 Menschen versammelten.

Nicht nur der Vater kämpft öffentlich für seine Tochter, auch der an der Donau lebende Bruder Hüseyin Tolu. Er sagte im Mai gegenüber unserer Zeitung: „Wenn meine Schwester eine Straftat begangen hat, dann hat sie immer noch das Recht, sich in Deutschland dafür zu verantworten.“ Oder Mesales Schwester Gülay, die am Samstag einen Brief der Inhaftierten verlas, aus dem hervorging, dass die studierte Gymnasialpädagogin, die seit 2007 ausschließlich den deutschen Pass besitzt, noch nicht ihre Zuversicht und ihren Mut verloren hat.

Die Politik hält sich mit Solidaritätsbekundungen zurück

Der Saal war voll, doch es fehlten – wie schon bei den bisherigen Protestkundgebungen in der Ulmer Fußgängerzone – zum Beispiel Bundestagsabgeordnete oder andere Vertreter der Donauregion, die mehr dem bürgerlichen Lager zuzurechnen wären. Nicht erst seit dem vergangenen Wochenende hat sich herausgestellt, dass der Fall Tolu vor allem von linken Gruppierungen benutzt wird, teilweise auch von solchen, die als linksradikal eingestuft werden. Die Kritik der Bundesregierung erfolgte prompt. Diese Gemengelage dürfte verhindert haben, dass der örtliche Protest für die Freilassung Tolus noch ein stärkeres Fundament bekam; obwohl die Gemeinderäte von Ulm und Neu-Ulm sich einige Wochen nach der Festnahme auf eine gemeinsame Resolution gegen Tolus Verhaftung und für die Pressefreiheit geeinigt hatten.

Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen, war am Wochenende auch in der Donaustadt. Er kündigte an, den Prozess vor Ort anschauen zu wollen. Am Montagabend aber, nachdem die hohe Strafforderung gegen den deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner bekannt geworden war, zog Mihr zurück. Die Anklage fordert 15 Jahre Haft wegen Unterstützung und Mietgliedschaft in einer Terrororganisation. Mihr hält es angesichts der Tonlage nicht für ausgeschlossen, in der Türkei ebenfalls verhaftet zu werden.

Will die türkische Justiz die Verfahren schnell beenden?

Schneller als bei Tolu oder etwa bei dem inhaftierten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel, gegen den bis heute noch keine Anklage erhoben wurde, schloss die türkische Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Steudtner ab. 15 Jahre Haft stehen im Raum. Entweder, so der Journalist Mihr, sei die schnelle Anklageerhebung gegen Steudtner ein Zeichen, dass der türkischen Regierung der Fall unangenehm wurde und sie ihn schnell abschließen wolle – also ein positives Signal. Oder es handle es sich um eine „neue Eskalation“. Nach Rücksprache mit Kollegen und Beratern in der Türkei neigt der Geschäftsführer inzwischen letzterer Version zu. Gleichwohl seien zwei Beobachter für Reporter ohne Grenzen vor Ort.

Mesale Tolu soll zusammen mit weiteren 17 Gefangenen abgeurteilt werden, die sich ebenfalls gegen den Verdacht der Terrorpropaganda wehren müssen. Gerichtsort ist das Gefängnis von Silivri, etwa 70 Kilometer von Istanbul entfernt, das Menschenrechtlern gut bekannt ist. Der Vorteil dort sei, dass es neben dem Verhandlungssaal noch einen Raum mit einer Audioübertragung gebe, so dass es nicht zu Platznöten unter den Beobachtern komme, heißt es bei Reporter ohne Grenzen.

Aus Berlin kommen Unterstützer

Laut der Anklageschrift werden Tolu zwei Kernvorwürfe gemacht. Zum einen ist es, ganz generell, ihre Tätigkeit als Übersetzerin für die linksgerichtete Nachrichtenagentur ETHA – ein Publikationsorgan, dessen Internetpräsenz zwar 2015 auf Staatsgeheiß abgeschaltet wurde, das aber ansonsten bis heute nicht generell verboten wurde. Zum anderen soll die 33-Jährige beim Begräbnis eines Mitglieds einer sozialistischen Partei in der Türkei Übersetzungsdienste für einen Journalisten geleistet haben – eine „Stringer-Tätigkeit“, wie deutsche Beobachter feststellen. Tolus Anwältin in der Türkei, die 26-jährige Juristin Kader Tonc, hält die Vorwürfe für konstruiert. Es gebe „Hoffnung, dass sie freikommt“, so Tonc.

Ein deutscher Unterstützerkreis für Mesale Tolu hat Schützenhilfe für die junge Anwältin organisiert. Von Berlin aus sind am Dienstag Dieter Hummel und Kersten Woweries nach Istanbul aufgebrochen. Zumindest moralische Unterstützung möchte die stellvertretende Vorsitzende der Linken-Fraktion im Bundestag, Heike Hänsel, leisten. Auch sie versucht, Zugang zum Gerichtssaal zu bekommen.

Der Prozess gegen Tolu und ihre Mitangeklagten ist bis einschließlich Donnerstag terminiert. „Wir erwarten nicht gleich ein Urteil“ sagt Baki Selcuk, Sprecher des Unterstützerkreises für die Ulmerin. Dass Tolu schnell freikommt, sei zwar eine Hoffnung. Wahr sei aber auch, dass die 33-Jährige wie Steudtner eine „politische Geisel“ sei.