„Schlag mer uff der Kropf na!“ statt „Ich komme nicht auf das Wort“: Dialekt ist Stigma und Privileg zugleich. Man wächst hinein, ihn nachträglich zu erlernen ist nicht möglich. Aber rühmen und preisen kann man ihn. StZ-Autor Christof Stählin tut dies mit Begeisterung.

Stuttgart - Ein Kabarettist gab auf einer Kleinkunstbühne auf der Alb ein Gastspiel. In einer seiner Nummern stellte er einen Schwaben dar, samt allem, was dabei als typisch gilt, natürlich im bühnenwirksam angenommenen schwäbischen Dialekt. Nach der Vorstellung kam eine dörfliche Nachbarin des Theaters hinter die Bühne, um ihm zu sagen, wie gut es ihr gefallen habe, um dann aber anzufügen: „Aber gell, Sie sind net von da?“

 

Dialekt ist akustischer Fingerabdruck, Geheimsprache, Stigma, Privileg und Herkunftsverräter seit biblischen Zeiten. Petrus behauptete, Jesus nicht zu kennen, als ihn am Vorabend der Kreuzigung die Kriegsknechte darauf ansprachen. „Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verrät dich!“, sagten sie – er sprach im galiläischen Dialekt (Markus 14,70). „Sag einmal ,Schiboleth‘!“, sagten die siegreichen Krieger von Gilead zu Flüchtlingen, die leugneten, aus Ephraim zu sein. Wenn sie „Siboleth“ sagten, weil sie das „sch“ nicht aussprechen konnten, eine Eigenart ihres lokalen Dialekts, war es um sie geschehen (Richter 12,6).

Der Laut „sch“ als Kennlaut hat die Jahrtausende überdauert, auch wenn niemand mehr sein Leben damit aufs Spiel setzt. Der Moselfranke, wenn er „Unterschied“ möglichst hochdeutsch sagen will, sagt „Unterchied“ und gibt damit Auskunft über seine Heimatregion. Der Jugendliche, der den Slang seiner vitalen türkischstämmigen Altersgenossen angenommen hat, sagt „isch“, statt „ich“, um dazuzugehören. Ein Sohn aus gutem Hause, der in dieser Kunst noch Anfänger war, hatte sich der Punkerbewegung angeschlossen, entsprechend gekleidet und frisiert und wurde in der Hamburger U-Bahn von einem jungen Türken angerempelt, „Hey, Nazi oder was?“ Seine Reaktion lautete: „Du, ich hab dich rein akustisch nicht verstanden!“, sprach also im Dialekt der besseren Kreise. Der andere fühlte sich provoziert, rückte ihm mit der Schulter auf den Leib und sagte: „Ey, du nennst misch akustisch?“

Man muss hineingeboren sein, um dazu zu gehören

So sensibel, so delikat ist das Phänomen des Dialekts in seinen tausend Varianten, dass die feinsten Nuancen ausschlaggebend sein können. Was sie signalisieren, wird durch zwei Wortpaare eingefangen: außen und innen und oben und unten. Das Erste bedeutet die Zugehörigkeit zu denen, die auch so reden, das zweite die Einordnung in die gesellschaftliche Schichtung, auch Hintergrund genannt. Es ergibt sich das Bild einer alten Lochkamera mit der lichtempfindlichen Schicht hinten darin, die oben und unten auf den Kopf stellt und noch die zartesten Lichtspuren einfängt.

„Dialekt ist mehr als ein philologisches ein psychologisches Problem“, sagt Ödön von Horváth in einer „Randbemerkung“ zu seinem Theaterstück „Die Bergbahn“. Das verbindet den Dialekt und seine Sprecher wider Erwarten mit dem Adel, was unsere Vorstellungen vom gesellschaftlichen Oben und Unten irritiert. Auch der Adel stellt nach der Abschaffung seiner Vorrechte eher ein psychologisches Problem und kein – in diesem Fall – sozialpolitisches Problem dar, weil das demokratische Bewusstsein nicht einsieht, weshalb jemand von Geburt an etwas Besseres sein soll, obwohl alle Standesprivilegien abgeschafft sind. Andrerseits ist die Frage, warum jemand durch seinen Dialekt, also seinen Hintergrund, am gesellschaftlichen Aufstieg gehindert sein soll, wo doch alles, was dem im Wege steht, gesetzlich abgeschafft ist. Unmittelbar verbunden ist der Dialekt (zur kurzen Bezeichnung seiner Sprecher) mit den Resten der Aristokratie durch die ursprüngliche Bindung an Land und Region, die Bodenständigkeit, den Familienzusammenhalt, vor allem aber dadurch, dass man hineingeboren sein muss, um dazuzugehören.

Aufstiegshindernis und schützenswertes Kulturgut

Der Adel hat im 18. Jahrhundert seine Legitimation und Macht in den Augen des Volkes in gleichem Maß eingebüßt, wie er seine Ortsgebundenheit (von . . .) aufgab, seine Güter vernachlässigte und sich in die Machtzentren der Höfe begab. Die Chancengleichheit aller Bevölkerungsschichten, die zu unseren demokratischen Unverzichtbarkeiten zählt, entmachtet den Dialekt in ähnlichem Sinn. Er wird zum Aufstiegshindernis, das zusammen mit seiner ländlichen Herkunft abgestreift werden soll, zu Gunsten von einflussreichen und hochbezahlten Positionen. So unterliegt er einer Erosion durch die Hochsprache und wird gleichzeitig zum schützenswertem Kulturgut, wird archiviert, versuchsweise lehr- und lernbar gemacht und in seinem Bestand festgehalten.

Die lebendige Wandlung und Entwicklung, die immer seine Eigenart war, ist auf die Jugendsprachen übergegangen und speist sich in den klassischen Dialekten nunmehr durch Neuzugänge aus der Schriftsprache. Durch Adoption und Eheschließung rekrutiert sich der Adel, seit Verdienst und Nobilitierung für seine Erneuerung ausgedient haben.

Das Selbstbewusstsein der Ausgeschlossenen

Ein Mann, der den Dialekt nicht mit der Muttermilch eingesogen hat, spricht einen alteingesessenen Dorfbewohner in Mundart an, die er sich wie eine Art sprachlichen Zweitwagen hält. Er bekommt seine Antwort, mit einem spiegelbildlichen Akzent, auf Hochdeutsch. Das ist, schmerzlich für den leutseligen Fremdling, eine Art Immunreaktion gegen Anbiederung. Als die Kaste des Adels noch eine lebendige Funktion hatte und entsprechend von einer Grauzone ungewisser Zugehörigkeit umgeben war, man also bei Annäherung nicht wissen konnte, ob man noch draußen oder schon drinnen war, duzte manch ein Mann, der sich dazuzählte, einen Edelmann, wie es unter Standesgenossen der Brauch war, und wurde, schmerzlich, nicht zurückgeduzt, also gleichsam auf Schriftdeutsch angesprochen, als er sich im Dialekt versucht hatte.

„Ich kann deine Sprache, aber du kannst nicht meine“, das ist der Anspruch des angenommenen Dialekts. „Du willst zu uns gehören, aber wir gehören ja doch nicht zu euch – und ihr nicht zu uns!“, mit diesem erfahrungsgestützten Verdacht kippt der Nachteil der Unterprivilegierung in das Selbstbewusstsein der Ausgeschlossenen. Was soll ein Mensch mit ländlichem Hintergrund, der mühsam versucht, seinen Dialekt abzustreifen und hochdeutsch zu sprechen, um in seiner Karriere voranzukommen, von jemand denken, der in eben dieser Sprache redet, obwohl er es gar nicht müsste? Am Dialekt erweisen sich die verbliebenen Höhenunterschiede im demokratischen Zusammenleben. Das schafft Energien der Einebnung, die wiederum den Dialekt in Gefahr bringen, weil er nach und nach dem unteren Mittelniveau der Hochsprache angeglichen wird, welcher im Zuge dieser Entwicklung dasselbe widerfährt wie dem Dialekt selber.

Mit Englisch kann man auch viel falsch machen

Das in Wirtschaft und Wissenschaft um sich greifende Englisch ist nicht etwa als Verrat an der Nationalsprache zu beklagen, sondern als Nivellierung und Schrumpfung von Sprache überhaupt, sei sie nun Englisch oder Deutsch. Das beanspruchte internationale Niveau von englisch verfassten wissenschaftlichen Veröffentlichungen deutscher Autoren macht die Heimatsprache zum Dialekt auf internationalem Podium, mit dem man nicht mehr wahr- und ernst genommen zu werden befürchtet. Dass die gelehrte Sprache auf diesem Weg an Tiefe und Farbe, Sinnlichkeit und Schmackhaftigheit verliert, scheint angesichts der Gefahr, den Anschluss zu verlieren, das geringere Übel zu sein. „Es geht uns schlecht, aber auf sehr hohem Niveau!“, so lautete eine ironisch-selbstzufriedene Klage im prosperierenden Württemberg. „Wir sind tief gesunken, aber mit sehr hohem Anspruch!“, so wäre der Kommentar zur neuen deutschen Anglofonie, die für die Verständigung im Land eine ähnliche Rolle spielt wie der neue Stuttgarter Tiefbahnhof für den Zugverkehr.

Nichts schafft mehr Prestige im allgemeinen Konkurrenzgerangel als ein tadelloses Englisch, nichts wirkt vernichtender als wenn ein amerikanischer Geschäftspartner nach der Besprechung sagt: „I loved your German accent!“, als sei damit eine Art sprachlichen Mundgeruchs ironisch bezeichnet. Dabei kann die Bemerkung durchaus als Ausdruck wirklicher Sympathie gemeint sein. Haben sich nicht englische Entertainer, als sie schon akzentfrei deutsch sprachen, auf ihren englischen Akzent besonnen, um nicht auf die Vorteile verzichten zu müssen, die er ihnen einbrachte? Auch die anglofonen Muttersprachler lieben es, ihre Sprache mit fremdem Akzent zu hören – während wir in Deutschland, wenn wir in die Hölle kommen, unsere Landsleute für alle Ewigkeit schlechtes Englisch reden hören müssen.

Wenn der Kellner den Gast zum „Signore“ befördert

Aber selbst die Akzentfreiheit kann noch zum Akzent werden. In Neukölln und Kreuzberg hört man in Cafés und Kneipen immer mehr Deutsche sich auf Englisch oder meistens vielmehr Amerikanisch unterhalten, in tadelloser Aussprache und in idiomatischen Wendungen, so dass man glaubt, Gäste aus Übersee säßen am Nachbartisch. Aber sie reden so laut, als gälte es, die Vollkommenheit ihres Sprachgebarens statt allgemein interessanter Mitteilungen ins nikotinfreie Halbdunkel hinauszuposaunen.

Mit größtem Entgegenkommen reagieren italienische Kellner, die unsere Sprache längst perfekt beherrschen, wenn sie von einem Gast auf Italienisch angesprochen werden, der als Volkshochschulkurs-Absolvent begreiflicherweise seine erworbene Sprachmächtigkeit spazieren führen möchte. „Grazie!“, „si!“, „prego“ und schließlich die Beförderung zum „Signore“ sind der Dank, das gehört zum Service. Ganz anders als die einheimischen Bewohner der deutschsprachigen Schweiz, wo Kurse im jeweiligen Dialekt angeboten werden, deren Teilnahme der Integration von Zugezogenen dienen soll. Man sollte aber zögern, die erworbenen Kenntnisse praktisch anzuwenden. Eine Hochsprache darf man mit Akzent sprechen, einen Dialekt nicht.

Was „Hochdeutsch“ eigentlich bedeutet

Geologisch zergliederte Landschaften wie die Alpentäler der Schweiz bringen tiefe Einschnitte im Unterschied der Dialekte hervor. So auch in Norwegen mit seinen Fjorden, wo man im Zuge der nationalen Emanzipation – weg von Dänemark – die Varianten der Dialekte in Bergen und Buchten des Nordens zu einer künstlich-einheitlichen Volkssprache zusammengefasst hat, sozusagen einer Hochsprache von unten gegen die dänisch beeinflusste vornehme Sprache der Hauptstadt im Süden. So überlagerte sich das geografische Oben und Unten mit dem der sozialen Schichtung: Dialekt unten, Hochsprache oben.

So war es auch in Deutschland mit dem Wandel der Bedeutung von „Hochdeutsch“ und „Niederdeutsch“. Zuerst bezogen sich „hoch“ und „tief“ noch auf die Höhe über dem Meeresspiegel, mit dem Gegensatz von Hochdeutschland und den hochdeutschen Mundarten im Süden, und Niederdeutschland mit dem Niederrhein, den Niederlanden und der norddeutschen Tiefebene im Norden. Dann aber legte sich das Wort „Hochdeutsch“ sozusagen quer über die Landkarte und verwandelte seine Bedeutung in die vornehme Sprache der gebildeten Oberschicht. „Tiefdeutsch“ oder gar „Unterdeutsch“ für die Dialekte, sagte man denn doch nicht. „Niederdeutsch“ blieb. Es galt dann für den nördlichen Teil Deutschlands mit seinen Tiefebenen, konnte aber auch die Sprache der gewöhnlichen Leute bezeichnen. So auch das Wort „platt“, was das flache Land mit der Sprache seiner Bewohner ebenso meinen konnte wie die Sprache des einfachen Volkes. Das „einfache Volk“, dessen Sprache der Dialekt ist, hat mit ihm Sprachen hervorgebracht, so bunt schillernd, so variantenreich und witzig, so schwierig in der Erfassung, dass ihm die Hochsprache nicht an die Fußknöchel reicht, mit dem einzigen Nachteil, dass sich seine Gültigkeit immer nur auf ein kleines Gebiet erstreckt, weil die Leute im Nachbardorf schon wieder ganz anders sprechen können.

„Kopfgesteuerter“ – nicht unbedingt ein Kompliment

Gleichwohl handelt es sich beim Dialekt nicht um eine Deformation der Sprache, sondern um ihre lebendigste und reinste Form. Schließlich sagen die Leute auf dem Land nicht „unser Dialekt“, sondern mit vollem Recht „unsere Sprache“, wenn sie ihre Mundart bezeichnen.Das gibt zu denken, aber denken sollte man besser mit dem ganzen Körper als nur mit dem Kopf, will man sich dem Dialekt nähern. „Das ist ein Kopfgesteuerter“, sagten Kfz-Mechaniker, als sie sich über einen intellektuellen Kunden unterhielten, und lieferten damit eine glänzend witzige Metapher für intellektuellen Weltbezug als gedanklichen Vorderradantrieb. Das Denken im Dialekt ist pragmatisch-nüchtern, körperbezogen und bilderreich, den Abstraktionen und theoretischen Begriffen instinktiv abhold. „Ich komme nicht auf das Wort“ heißt es bei Wortfindungsnot auf Hochdeutsch. „Schlag mer uff der Kropf na!“, sagte dafür ein schwäbischer Handwerker. Den Satz: „Bei Annäherung an eine fremde Sprachwelt sollte man falsche Identifikation mit dem Gegenstand vermeiden“ hätte Martin Luther, der Großmeister der Übertragung in die Sprache des Volkes, so ausgedrückt: „Auf einem fremden Arsch durch die Hölle reiten.“

Was soll man also mit dem Dialekt in diesen Zeiten der sprachlichen Umschichtungen machen? Selbstbewusst sprechen, wenn man’s kann, oder es bleiben lassen, lieben, bewundern, respektieren, die Dokumentation in Ehren. Man mag über den Dialekt sagen, was man will, es wird immer auch andere Meinungen dazu geben. Aber eins bleibt und steht fest: Dialekt ist Ausdruck von Identität. Was aber ist Identität? Kein Mensch wird das je herausfinden, denn die Identität selber hat keine. Der Dialekt, schon weil er kein Wort dafür hat, weiß von Identität nicht das Geringste. Er ist es gleich selber, er braucht bloß den Mund aufzumachen.