Gute Streaming-Dienste erneuern und erweitern ständig ihre Angebote. Damit wir bei Netflix, Amazon, Sky und Co. nicht durch die Überfülle irren müssen, gibt es Empfehlungshelfer. Aber funktionieren die?

Stuttgart - Was fliegt denn da gerade quer durchs Wohnzimmer? Eine Fernbedienung! Ist da etwa jemand mit dem gebotenen Programm nicht zufrieden? Vielleicht. Vielleicht ist da aber auch nur eine weitere Netflix-Nutzerin zum Wutkatapult geworden oder ein Amazon-Prime-Video-Kunde zum Choleriker ob der unüberschaubaren Angebotsfülle. In sozialen Netzwerken jedenfalls findet man solche galligen Beschreibungen von Heimkinoabenden immer öfter: Menschen setzen sich erwartungsvoll hin, stöbern nach einer interessanten neuen Serie, kruschteln, schwanken, kramen, zögern, und dann sind die geplanten zwei Stunden Entspannungszeit auch schon vertan.

 

Dem wirkungsvollen Werbebild des fasziniert Bingenden, also des Menschen, der sich rotäugig alle Folgen seiner Lieblingsserie hintereinander weg verpasst wie ein schon aus den Ohren rußender Kettenraucher einen Glimmstängel nach dem anderen, stellt die Wirklichkeit das Bild der frustrierten Nutzer gegenüber, die vor lauter Suchen nicht zum Schauen kommen.

Warnung von den alten Griechen

Die alten Griechen kannten zwar Netflix, Amazon, Sky und Hulu noch nicht, dafür aber schon die Seele des Menschen. Der 384 vor Christus geborene Aristoteles malte düster die Unentschlossenheit eines Mannes aus, „der zwischen Essen und Trinken stehend verenden muss, weil er genau gleichermaßen hungrig und durstig ist.“

Die Manager der Streaming-Dienste sind also seit Jahrtausenden vorgewarnt. Und sie haben auch etwas getan. Eigentlich sind alle ganz stolz auf ihre jeweiligen Empfehlungsalgorithmen, die Nutzer feinstens individuell abgestimmt von Vergnügen zu Vergnügen leiten sollen. Die Details sind zwar Teil der hauseigenen Geheimrezepturen, aber der Branchenprimus Netflix ist so stolz auf seine Auswahlhilfen, dass er zumindest einige Eckwerte benannt hat. Über zweitausend Typen von Benutzern will man ermittelt haben, und wer in welche Kategorie fällt, wird natürlich anhand des Sehverhaltens ermittelt: Was wird geschaut? Wann wird geschaut? Wie viele Folgen am Stück? Wie oft? Vor allem auch: Wann steigt jemand aus? Auf welche Empfehlungslinks reagiert jemand, auf welche nicht?

Viele kleine Etiketten

Um aus diesen Daten nützliche Tipps erzeugen zu können, müssen natürlich auch die Filme und Serien selbst eingeteilt werden. Das übernehmen bei Netflix angeblich Menschen, die alles skrupulös sichten und mit einer Vielzahl von Etiketten versehen. Das beginnt beim Genre, Science-Fiction, Horror, Teenie-Komödie etwa, und erfasst dann, kann man jedenfalls vermuten, die Drastik der Gewaltszenen, die Häufigkeit von Knutschereien, die Ernsthaftigkeit von Diskussionen, den Prachtfaktor von Kulissen und vielleicht auch die Frage, ob eher Hunde oder eher Katzen die Sympathieträger sind. Eigentlich dürfte also nicht viel schiefgehen.

In der Realität aber kann man als Nutzer mit Sonderinteressen sein blaues Wunder erleben. Gut versteckt hält Netflix zum Beispiel auch viele Dokumentarfilme über Jazzmusiker im Angebot. Aber egal, wie viele von denen man hervorwühlt und anschaut, der Empfehlungsalgorithmus schlägt einem lieber das vor, was sowieso schon unter „Derzeit beliebt“ angepriesen wird und was alle schauen, also wieder mal „Stranger Things“. Unbeeindruckt davon auch, dass dieser so beratene Nutzer beide Staffeln von „Stranger Things“ bereits ganz zu Ende geschaut hat.

Zeit für den Hund

Und was gar wird einem nach dem vollen Wochenende Binge-Watching der realitätsprallen Dokumentarserie „Flint Town“ angeboten? Die schildert den Kampf einer auf weniger als ein Drittel der früheren Stärke abgeschmolzenen Polizeitruppe in einer bankrotten Stadt gegen Verbrechen, Verelendungsfolgen und die brisanten Rassenspannungen nach Polizeigewalt gegen Afroamerikaner anderswo.

Überraschenderweise die kinderorientierte Fiction-Serie „Benji“ über einen knuffigen kleinen Hund: „Dieser geniale Streuner öffnet Türen und Herzen und ist der beste vierbeinige Freund deines Lebens.“ Bis auf die Vierbeinigkeit sind das ein Auftreten und eine Wirkung, wie sie die Polizeibeamten in Flint für sich erträumen. Demnach scheinen die Empfehlungs-Algorithmen von Netflix also wirklich unglaublich ausgefuchst zu sein.

So recht mag man das nicht glauben. Entweder die Datenauswertung der Empfehlungsmaschinerien ist noch stümperhaft. Oder die Streaming-Dienste versuchen eben doch mit sehr forcierten Empfehlungen, Motto „Alle bitte mal dasselbe schauen!“, neue Serienhits zu schaffen.