Soviel Großstadt war auf der Marbacher Schillerhöhe selten: Das Literaturmuseum der Moderne zeigt die „Die Erfindung von Paris“.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Am besten, man lässt sich einfach treiben. Von den bekannten Plätzen, Monumenten, vielbegangenen Boulevards in entlegenere Viertel, wo hinter der Scheibe eines Bistros gerade der Dichter Peter Handke die Zeitung liest. Vorüber an Schaufenstern, deren Auslagen die Eindrücke großer Parisreisender feilbieten: hier kalligrafische Momentaufnahmen durch die Zeit fliegender weißer Elefanten im Jardin du Luxembourg, dort der Schnappschuss eines schwebenden Rhinozerosses vor der über betäubendem Straßen-Tosen aufragenden Silhouette des Eiffelturms. Fehlt nur noch die Schildkröte, von der sich der Flaneur einmal das Tempo vorgeben ließ, wie der Kulturphilosoph und Paris-Archäologe Walter Benjamin notierte: „Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen.“

 

Paris ist Rausch, Überforderung, Leidenschaft, Exil, Klischee, Reizüberflutung – oder, wie der scheidende Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, Ulrich Raulff, all dies auf den Begriff bringt: ein Labor der Moderne. Die Ausstellung „Die Erfindung von Paris“ ist gewissermaßen ein Abschiedsgruß des in der französischen Hauptstadt intellektuell sozialisierten Direktors, unter dessen Ägide von Marbach aus einige der großen Magistralen des Geistes erschlossen wurden, zuletzt Rilke und Russland oder Beckett in Deutschland.

Soviel Großstadt war auf der Schillerhöhe selten. In den visionären Katakomben des Literaturmuseums der Moderne haben die Ausstellungsgestalter des Berliner Büros Merz Schneisen und Sichtachsen geschlagen wie einst der Stadtplaner Haussmann in das Gewinkel der Stadt. Fünfhundert Exponate haben die Leiterin des Literaturmuseums, Ellen Strittmatter, und die Kuratorin Susanna Brogi in der so geschaffenen Topografie verteilt, zu gleichen Teilen aus fotografischem wie autografischem Material bestehend. Denn, so Raulff: „Paris ist auch der Ansturm der Bilder auf die Philologie.“ Das Augenmerk in den letzten Jahren verstärkt auf die wechselseitige Durchdringung visueller und textueller Wahrnehmungsweisen gerichtet zu haben, ist ein Impuls, von dem vor allem das Marbacher Ausstellungswesen profitiert.

Im Mittelpunkt steht der Flaneur

Welche Erkenntnis- und Erlebnisgründe damit offenstehen, erschließt sich dem flanierenden Besucher, denn an der Erfindung von Paris haben Fotografen ebenso mitgewirkt wie Dichter. Und so flankieren die ikonischen Bildprägungen von Yvon, Mario von Bucovich, Germaine Krull, Georg Stefan Troller und Barbara Klemm den Weg der Dichter durch die Stadt, von Heinrich Heine bis Peter Handke.

Den Takt gibt keine Schildkröte vor, sondern der mannigfaltige Rhythmus des Flaneurs. Er ist Subjekt und Objekt dieser Ausstellungspassage zugleich, seine Gangarten ordnen die überbordenden Eindrücke: Entdecken, Taumeln, Ausschwärmen, Verirren – insgesamt 17 solcher Bewegungs-Modi haben die beiden Kuratorinnen ausgemacht und den einzelnen hier präsenten Autoren zugeordnet. Man spaziert ein Stück mit Franz Hessel. „Paris ist die Heimat des Fremden“, schreibt der Berliner Autor. „Als Spaziergänger erwirbt man hier ein kleines Bürgerrecht.“ Sein Weg hat sich mit dem Walter Benjamins im Fluchtort Paris gekreuzt. Zusammen arbeiteten sie an der literarischen Zauberwelt des „Passagen-Werks“, unter dessen fragmentarischem Dach Benjamin Warenhäuser, Panoramen, Weltausstellungen, Kapital, Mode, Prostitution und Reklame zusammengeführt hat.

Zuvor hat Rainer Maria Rilke um den Ausdruck der ihm anfangs als schrecklich und schwer entgegentretenden Stadt gerungen, in der seine Dichtung gleichwohl den Anschluss an die Moderne fand. Man kann die Spuren verfolgen, die Passagen aus Briefen an Lou Andreas-Salomé in seinem düster-bahnbrechendem Roman-Experiment der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ hinterlassen haben. Weiterziehen ist der Duktus des Exilanten Joseph Roth, der von einem Café aus den Abriss seines Hotels beobachtete, und notierte: „Man verliert eine Heimat nach der anderen. Hier sitze ich am Wanderstab.“ Vor der andrängenden Barbarei floh er in den Suff. Eine Erstausgabe der „Legende vom Heiligen Trinker“ bekränzt seinen Tod im Jahr des Kriegsausbruchs 1939.

Mäandern zwischen kalter Ästhetik und Kitsch

Dann kommen andere. Der Besatzungsoffizier Ernst Jünger feiert 1944 während eines Fliegerangriffs und Sprengwolken auf dem Dach des Hotel „Raphaël“ das Schauspiel von Schmerz und erhöhter Macht, mäandernd zwischen Grausamkeit, kalter Ästhetik und Kitsch: „Bei Sonnenuntergang hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelch, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.“

Der Fotograf und Publizist Georg Stefan Troller wird später seine Paris-Bilder mit einer Leica-Kamera machen, die er einem deutschen Soldaten abgenommen hat. Unweit von Jünger residiert Paul Celan, der sich als Überlebender des Holocaust 1948 in Paris niederließ. Auch in seinem kleinen Blumenbuch begegnet man einem Blütenkelch, einer getrockneten Herbstzeitlosen, in der ein Gedicht Apollinaires wiederklingt, das im Bild der Blume Leben und Tod, Liebe und Gift vereint.

Je nach gewählter Route landet man irgendwann bei Siegfried Kracauer. Hier laufen die bildlichen und literarischen Fäden zusammen. Ein Sammelsurium von fotografischen Streifzügen, Stadtplänen, Skizzen, Konvoluten, aus denen sich sein großes Geschichtspanorama „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“ speiste.

Man mag seine Zweifel haben, ob Paris seine Erfindung tatsächlich deutschen Autoren und Autorinnen verdankt. Einige andere Namen würden einem in diesem Zusammenhang durchaus einfallen: Balzac, Zola, Proust. Doch die kluge Erfindung dieser Erfindung ist allemal eine Reise nach Marbach wert.