Mehr transnationales Regieren ist notwendig, das hat die Europäische Union in der Krise erfahren. Was die Bürger vermissen, ist grenzüberschreitende Demokratie, meint unser Brüssel-Korrespondent Christopher Ziedler.

Brüssel - So viel und zugleich so wenig Europa hat es noch nie gegeben. Und es ist ziemlich gefährlich, dass diese beiden Europas kaum Berührungspunkte haben.

 

Das eine wächst weiter zusammen und bekommt dafür internationale Anerkennung und Aufmerksamkeit. US-Präsident Barack Obama und Chinas Staatschef Xi Jinping besuchten kürzlich zum ersten Mal die Institutionen der Europäischen Union in Brüssel – nicht von ungefähr. Von außen muss sie inzwischen wie eine Art Staat wirken, der seine Währung verteidigt, härtere Regeln für Banken verabschiedet, Freihandelsgespräche mit Amerika aufgenommen hat und zuletzt sogar halbwegs einheitlich gegenüber der Ukraine und Russland aufgetreten ist. Mehr Europa war nie.

Aber auch noch nie weniger. In Reimform hat ein Leser dieser Zeitung kürzlich seine Sicht auf die Europäische Union gepackt: „Ich und Du zahlen für den Unfug der EU.“ Mit seinem Unmut steht er nicht allein, wie Blicke in Internetforen oder auf Umfragen wenige Wochen vor der Europawahl zeigen. Viele Bürger wollen Parteien wählen, die die EU oder den Euro ablehnen und die Nationalstaaten wieder zur alleinigen Entscheidungsinstanz machen wollen. Alle schöpfen aus einem großen Reservoir an Ärger, Skepsis, gar Verachtung angesichts einer EU, die Milliardenhilfen für andere Länder und deren Banken beschließt, härteste Sparmaßnahmen durchsetzt oder heftig umstrittene Gesetze verabschiedet.

Beschöniger hie, Dämonisierer da

Nie war der Gegensatz größer. Die einen betonen die „Versöhnung der Völker“, die mit der EU gelungen ist, andere sehen sie als eine „Verschwörung gegen die Völker“, weil sie nicht Politik für Menschen, sondern für Konzerne mache. Friedensdividende hier, Freiheitsberaubung dort.

Leider verstellen sowohl Beschöniger wie Dämonisierer der EU den Blick auf die Realität. Weder gleicht der Zustand der Demokratie jenem in Nordkorea, wie ein Plakat der Wolfsburger Ortsgruppe der Alternative für Deutschland glauben machen will, noch ist es auf Dauer tragbar, wenn nicht gewählte Direktoriumsmitglieder der Europäischen Zentralbank de facto eine gemeinsame Schuldenhaftung beschließen. Weder hat die EU den Konflikt in der Ukraine aktiv angezettelt, noch haben ihre Außenminister im Vorfeld alles richtig gemacht. Weder entbehren die Bedenken bezüglich des Freihandelspakts mit Amerika jeder Grundlage, noch läutet er das Ende der Demokratie ein, weil das Europaparlament manche derzeit diskutierte Punkte schlicht nicht akzeptieren wird. Doch wir haben es mit einer unheiligen Allianz zu tun, die eine echte Bestandsaufnahme und eine ernsthafte Diskussion verhindert.

Für die Zukunft der EU ist es hochgradig gefährlich, wenn nun das einst von Michael Gorbatschow so bezeichnete „Europäische Haus“ immer weiter ausgebaut wird, gleichzeitig aber immer mehr Bewohner ausziehen wollen. In der jüngsten Eurobarometer-Umfrage etwa geben nur noch 26 Prozent der Befragten an, der Meinung zu sein, dass sich die Gemeinschaft auf dem richtigen Weg befindet. Immer mehr Europa mit immer weniger Rückhalt der Europäer, Tat ohne Idee – das kann auf Dauer nicht funktionieren. So geht Europa kaputt.

Was tun gegen die Erosion der europäischen Idee?

Gestoppt werden kann diese schleichende Erosion nur, wenn die Herausforderung klar definiert und angepackt wird: Dem transnationalen Regieren muss eine transnationale Demokratie an die Seite gestellt werden, die ihren Namen wirklich verdient – eine wahre Herkulesaufgabe.

Was nämlich wäre die Alternative? Die Zuständigkeiten dorthin zurückverlagern, wo die Beteiligungsmechanismen vielleicht nicht immer besser, aber doch zumindest bekannt und eingeübt sind und die entsprechende Öffentlichkeit existiert? In einigen Politikbereichen wäre das sicher richtig. Man könnte etwa über die Landwirtschaft nachdenken. Sie wurde in der Nachkriegszeit voll vergemeinschaftet, um Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten. Diese Begründung hat sich überlebt.

Die politischen Probleme jedoch, die nach internationalen oder zumindest europäischen Lösungen schreien, überwiegen. Ist nicht unsere wechselseitige Abhängigkeit die größte Erkenntnis aus den Krisen des Globalisierungszeitalters? Schlecht abgesicherte Hypothekenkredite für US-Häuslebauer bringen deutsche Landesbanken ins Wanken, schludriges Haushalten in Griechenland die ganze Währungsunion – die dann von Chinas Staatsfonds gestützt wurde, weil die Volksrepublik Europa als Absatzmarkt braucht. Soll sie dauerhaft bestehen, braucht es eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Hätte jeder EU-Staat für sich Gesetze zur Eindämmung des weltweiten Finanzcasinos verabschieden sollen? Beim Klimaschutz liegt die Notwendigkeit zur Kooperation ohnehin in der Natur der Sache, die Ukraine-Krise fördert nun zu Tage, wie erpressbar Europa ohne einheitliche Energiepolitik ist. Datenschutz ist doch nur noch im Verbund denkbar. „Wenn es die EU nicht gäbe“, heißt es deshalb aus den Mündern einiger Europafans, „müssten wir sie jetzt erfinden.“

Die Mitgliedsstaaten scheuen vor „mehr Europa“ zurück

Die meisten Entscheidungsträger in Europa denken so, handeln aber nicht danach. Im Berliner Koalitionsvertrag, ja selbst in den Wahlprogrammen zur Europawahl finden sich wenige konkrete Aussagen zur Weiterentwicklung der EU, von „mehr Brüssel“ ganz zu schweigen. Das ist angesichts der Stimmung vieler Wähler verständlich. Die Diskrepanz zwischen dem als notwendig Erkannten und dem als politisch durchsetzbar Erscheinenden lähmt die Gemeinschaft also schon jetzt.

Ein unpopuläres Beispiel dafür, welche Widersprüche sich daraus ergeben: Aus demokratischer Sicht wird zu Recht Kritik an der Entscheidung der Europäischen Zentralbank geübt, notfalls Staatsanleihen von Krisenstaaten aufzukaufen. Unstrittig dagegen ist, dass die undemokratisch verordneten Eurobonds ihren Zweck erfüllt und die Spekulation gegen den Euro vorläufig beendet haben. Wie aber verbände man demokratische Kontrolle mit gemeinsamer Haftung? Mit parlamentarisch zu beschließenden Eurobonds, die aber niemand dem Wähler zumuten mag! Lehnen wir aber beide diese Möglichkeiten zur Stabilisierung der Währungsunion ab, müsste Deutschland sie eigentlich verlassen – aber auch das ist nicht Bundesregierungspolitik. Unterdessen wächst der Unmut allerorten.

In Brüssel setzen viele darauf, dass der Aufstand gegen Europa wieder abflaut, wenn nur die Wirtschaft wieder anzieht und die horrend hohe Zahl von 26 Millionen Arbeitslosen zurückgeht. Gewiss, das könnte dem Sturm die Spitze nehmen. Doch verkennt es die grundsätzliche Natur der Kritik, wie sie etwa der Publizist Henryk M. Broder in einer Abrechnung mit dem „Brüsseler Monster“ äußert: „Ich gehe jede Wette ein, dass ich nicht der Einzige bin, der nicht mitbekommen hat, was für eine Krake im Hinterhof unserer Bausparidylle zum Leben erwacht ist.“

Ein neuer EU-Vertrag täte Not

So etwas schreibt sich leicht dahin, da die EU-Gesetzgebungsmaschine heute tatsächlich in die kleinsten Verästelungen des Alltags hineinreicht. Aber selbst wenn man dieses System als Krake bezeichnen mag, so ist eins doch sicher falsch: Sie ist nicht aus eigenem Antrieb zum Leben erwacht, sondern von gewählten Regierungen und Abgeordneten freiwillig geschaffen worden – Schritt für Schritt, von Vertrag zu Vertrag. Das heißt im Umkehrschluss, dass die 28 EU-Staaten einen weiteren Vertrag aufsetzen könnten – und sollten.

Wie könnte echte europäische Demokratie aussehen, die den gordischen Knoten durchschlagen könnte? Bei null muss man entgegen dem Vorurteil nicht anfangen. Die EU-Bürgerinitiative könnte ausgebaut werden. Das Europaparlament verfügt schon heute über weit gehende Mitspracherechte, doch fehlt noch das Recht, eigene Gesetzesvorschläge einzubringen. Es sollte selbstständig den Chef der EU-Kommission aus seiner Mitte wählen und nicht, wie das auch nach dieser Europawahl sein wird, auf den Personalvorschlag der Staats- und Regierungschefs warten müssen – selbst wenn dieser nun das Europawahlergebnis berücksichtigen muss.

Weiterwurschteln reicht einfach nicht

Auch kann von einem echten Zweikammersystem nicht die Rede sein. Der Rat der Regierungen hat deutlich mehr Einfluss als das Parlament. Zugleich müsste das Abstimmungsverhalten nationaler Minister in Brüssel von den Heimatparlamenten besser kontrolliert werden – bei der Eurorettung musste Karlsruhe den Bundestag zum Jagen tragen. In Skandinavien ist es gute Tradition, dass die Minister vor jeder Belgienreise die Abgeordneten unterrichten und auch „rote Linien“ mit auf den Weg bekommen. Das erschwert Einigungen in Europa, zum Nulltarif aber ist mehr Demokratie nicht zu haben.

Die größte Legitimation erführe ein solch neues Europa aber dadurch, dass seine vertragliche Grundlage den EU-Bürgern zur Abstimmung vorgelegt wird. Natürlich wäre das riskant. Aber müsste ein guter Vertrag, der unter Beteiligung der Bürger aufgesetzt wurde, nicht wenigstens eine Chance haben? Wer dies ausschließt, hat Europa wirklich aufgegeben. Denkbar, dass alle Länder, die Ja dazu sagen, sich in einer Neugründung zusammenfinden.

Um eine solche Vertragsänderung und den entsprechenden Bürgerkonvent ist es in letzter Zeit leider ziemlich still geworden. Der Trend geht zum Weiterwurschteln. Beschöniger und Dämonisierer werden sich beide bestätigt sehen.

Europa, die Wahl und ihr Beobachter

Im Jahr 1979 fanden die ersten direkten Europawahlen statt. Seitdem stimmen die Bürger in den EU-Staaten alle fünf Jahre in allgemeinen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahlen über ihre Abgeordneten ab. Diese tagen zwölf Wochen im Jahr in Straßburg – sonst in Brüssel. Die Verwaltung sitzt in Luxemburg. Das Europäische Parlament ist nicht nur das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union, sondern die einzige direkt gewählte supranationale Institution weltweit. Jeder Europaabgeordnete hat das Recht, in der eigenen Sprache zu sprechen, zu hören, zu lesen und zu schreiben. Zurzeit arbeitet das Parlament mit 24 Amtssprachen. Keine andere Körperschaft weltweit verwendet so viele unterschiedliche Sprachen.

Chrisopher Ziedler Foto: StZ

Als Christopher Ziedler Anfang 2010 seinen Posten als EU-Korrespondent der Stuttgarter Zeitung antrat, ging es schon an seinem zweiten Arbeitstag in Brüssel um die Finanzprobleme der Griechen. Seither hat die EU den Krisenmodus nicht verlassen – und Ziedler (40) ist zu einem ebenso kundigen wie kritischen Begleiter der Entwicklung geworden.