Wer die Kanzlerin kennt, weiß, dass sie schon viel weiter denkt. In Paris zeigte sich Merkel zuletzt beispielsweise durchaus offen dafür, den von Macron gewünschten Posten eines Euro-Finanzministers zu schaffen oder einen eigenen Euro-Haushalt zu finanzieren – Festlegungen nach außen vermied sie freilich strikt. Sie sagte am Rande des deutsch-französischen Ministerrats allerdings einen sehr aufschlussreichen, ja fast verräterischen Satz, der darlegt, dass die Kanzlerin auch im Wahlkampfendspurt nicht konkret werden will, sondern den Auftrag für die angedeutete Großreform der Eurozone erst später vom Bundestag erhalten will: „Dieses Mandat für die Weiterentwicklung kann man sich nach den Wahlen holen.“ Mit dem, was da europapolitisch kommt, sollen die potenziellen Wähler erst einmal nicht verstört werden. Demokratieförderlich ist das nicht. „Über die konkrete Europapolitik der nächsten Bundesregierung“, sagt Günther Oettinger, „müssen dann die Koalitionsverhandlungen entscheiden.“

 

Spät, vielleicht zu spät, hat Martin Schulz erkannt, dass er aus dieser Leerstelle vielleicht politisches Kapital schlagen könnte. Es sei, sagte er erst vor wenigen Tagen, „ein ausgewachsener Skandal, wenn die Kanzlerin sagt, wir haben große Dinge mit Europa vor, aber was, das sagen wir erst nach der Wahl“. Mit dem Mut der aus den Umfragewerten gespeisten Verzweiflung verfolgt Schulz jetzt eine offensivere Strategie. Er will „kämpfen für Europa“, trifft Monsieur Mit-Europa-lassen-sich-Wahlen-gewinnen-Macron in Paris und spricht nun auch offen aus, was bisher eher im sozialdemokratischen Wahlprogramm versteckt denn freudig in die Welt hinausposaunt wurde.

Das deutsche Wahlpublikum ist an solche Debatten nicht gewöhnt

Mit einem europäischen Investitionsprogramm, mehr Geld für den Kampf gegen die anhaltend hohe Jugendarbeitslosigkeit, flexibel ausgelegten Maastrichter Schuldenregeln, Maßnahmen gegen die Steuerflucht von Unternehmen und einer Finanztransaktionssteuer soll die soziale Spaltung in Europa überwunden werden. Aus sozialdemokratischer Sicht lässt sich schließlich durchaus ein wirtschaftsnationalistischer Vorwurf gegen die Kanzlerin und ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble konstruieren, weil deren Schwarze-Null-Doktrin von nicht wenigen namhaften Ökonomen seit einiger Zeit als Mitursache für Europas Dauerkrise angesehen wird.

Die Gefahr, damit in die von Merkels Union aufgestellte „Eurobonds-Falle“ zu tappen, ist groß. Alles was nach „Schuldenvergemeinschaftung“, „Transferunion“ oder „Wir zahlen für Europa“ klingt, scheint in Deutschland, unabhängig von der Sinnhaftigkeit, politisch verbrannt. Nicht zuletzt deshalb haben die Sozialdemokraten beispielsweise im Sommer des Jahres 2015 die härtesten Spar- und Privatisierungsforderungen gegenüber Griechenland mitgetragen – erst jetzt beklagt Schulz, dass Schäuble, gemeinsam mit der SPD, dort insgesamt 13 Rentenkürzungen mit durchgesetzt hat.

Je konkreter, desto riskanter. Das deutsche Wahlpublikum ist an solche, längst überfällige Debattenbeiträge nicht gewöhnt, die Abwehrreflexe auch in bestimmten Teilen der Medien bleiben stark. Was nämlich heißt es unter dem Strich, wenn Schulz nun eine „politische Union der Vereinigten Demokratien von Europa“ als Devise ausgibt? Oder es in seinem Programm heißt „Das langfristige Ziel ist eine europäische Verfassung“? Es geht genau wie bei der geplanten Einführung einer europäischen Wirtschaftsregierung, eines Eurozonen-Budgets samt Überwachung durch eine Eurozonen-Kammer sowie einer Reform der EU-Kommission und der generellen Stärkung des Europaparlaments um eine weitere Bündelung staatlicher Hoheitskompetenzen in Brüssel, damit die Währungsunion dauerhaft bestehen kann. Im Raum steht dabei nichts Geringeres als die Frage, ob das deutsche Grundgesetz eine weitere Rechteauslagerung eigentlich noch mitmacht.

Jenseits proeuropäischer Bekenntnisse, die ihnen regelmäßig Applaus einbringen, ist von den beiden proeuropäischen Kanzlerkandidaten lange nicht viel zu hören gewesen – und das ist mindestens genauso interessant. Haben die Bundesbürger nicht das Recht zu erfahren, für welches europapolitische Konzept sie sich mit welchem Kandidaten entscheiden? Wie die politische Union aussehen soll, die dem Euro eines Tages an die Seite gestellt werden soll, damit er alt werden kann? Sollte die Zukunft Europas tatsächlich nicht wichtig genug sein, um den Wählern konkrete Alternativen anzubieten? Ist es nach all den Krisenjahren immer noch so, dass Wahlen über die innenpolitischen Klassiker Arbeit, Bildung, Familie, Rente und Wirtschaft gewonnen werden, weil die mögliche Abgabe nationaler Souveränitätsrechte bei nationalen Wahlen per Definition ein Verliererthema sein muss?

Die Kanzlerin hält sich zurück

Europa erfordert Mut. Und wer, wenn nicht zwei tief von Europa überzeugte Kanzlerkandidaten, sollte den Mut aufbringen, die tradierte Form des Wahlkampfs aufzubrechen und klarzumachen, dass es im 18. Jahr des 21. Jahrhunderts nicht mehr nur allein um Deutschland geht, wenn in Deutschland gewählt wird? Es wäre schön, wenn Angela Merkel diesen Mut für eine echte europäische Wahlkampfdebatte aufbrächte. Leider sehen ihre Strategen darin ein unnötiges Risiko, das den schönen Umfragevorsprung schmälern könnte. Und so bittet die Kanzlerin frei nach dem Motto „Merkel wird es wie bisher schon irgendwie richten in der EU“ lieber um eine Art Blankoscheck dafür, weiter die Geschicke Deutschlands und Europas zu lenken und situationsbedingt zu entscheiden. „Wir Europäer müssen unser Schicksal konsequenter als bisher in die eigene Hand nehmen“, sagt Merkel seit einiger Zeit – die Frage nach dem Wie lässt sie unbeantwortet.

Einen einzigen konkreten Spiegelstrich enthält das Europa-Kapitel des CDU-Regierungsprogramms für die Jahre bis 2021: Der Euro-Rettungsschirm ESM soll zu einem eigenen europäischen Währungsfonds ausgebaut werden – Hintergrund ist unter anderem, dass die Griechenland-Ökonomen des Weltwährungsfonds IWF regelmäßig der Unionsposition widersprechen. Sonst bleibt die Zukunft der Währungsunion im CDU-Programm noch vage: „Wir sind bereit, mit der neuen französischen Regierung die Euro-Zone schrittweise weiterzuentwickeln“.

Je konkreter, desto riskanter

Wer die Kanzlerin kennt, weiß, dass sie schon viel weiter denkt. In Paris zeigte sich Merkel zuletzt beispielsweise durchaus offen dafür, den von Macron gewünschten Posten eines Euro-Finanzministers zu schaffen oder einen eigenen Euro-Haushalt zu finanzieren – Festlegungen nach außen vermied sie freilich strikt. Sie sagte am Rande des deutsch-französischen Ministerrats allerdings einen sehr aufschlussreichen, ja fast verräterischen Satz, der darlegt, dass die Kanzlerin auch im Wahlkampfendspurt nicht konkret werden will, sondern den Auftrag für die angedeutete Großreform der Eurozone erst später vom Bundestag erhalten will: „Dieses Mandat für die Weiterentwicklung kann man sich nach den Wahlen holen.“ Mit dem, was da europapolitisch kommt, sollen die potenziellen Wähler erst einmal nicht verstört werden. Demokratieförderlich ist das nicht. „Über die konkrete Europapolitik der nächsten Bundesregierung“, sagt Günther Oettinger, „müssen dann die Koalitionsverhandlungen entscheiden.“

Spät, vielleicht zu spät, hat Martin Schulz erkannt, dass er aus dieser Leerstelle vielleicht politisches Kapital schlagen könnte. Es sei, sagte er erst vor wenigen Tagen, „ein ausgewachsener Skandal, wenn die Kanzlerin sagt, wir haben große Dinge mit Europa vor, aber was, das sagen wir erst nach der Wahl“. Mit dem Mut der aus den Umfragewerten gespeisten Verzweiflung verfolgt Schulz jetzt eine offensivere Strategie. Er will „kämpfen für Europa“, trifft Monsieur Mit-Europa-lassen-sich-Wahlen-gewinnen-Macron in Paris und spricht nun auch offen aus, was bisher eher im sozialdemokratischen Wahlprogramm versteckt denn freudig in die Welt hinausposaunt wurde.

Das deutsche Wahlpublikum ist an solche Debatten nicht gewöhnt

Mit einem europäischen Investitionsprogramm, mehr Geld für den Kampf gegen die anhaltend hohe Jugendarbeitslosigkeit, flexibel ausgelegten Maastrichter Schuldenregeln, Maßnahmen gegen die Steuerflucht von Unternehmen und einer Finanztransaktionssteuer soll die soziale Spaltung in Europa überwunden werden. Aus sozialdemokratischer Sicht lässt sich schließlich durchaus ein wirtschaftsnationalistischer Vorwurf gegen die Kanzlerin und ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble konstruieren, weil deren Schwarze-Null-Doktrin von nicht wenigen namhaften Ökonomen seit einiger Zeit als Mitursache für Europas Dauerkrise angesehen wird.

Die Gefahr, damit in die von Merkels Union aufgestellte „Eurobonds-Falle“ zu tappen, ist groß. Alles was nach „Schuldenvergemeinschaftung“, „Transferunion“ oder „Wir zahlen für Europa“ klingt, scheint in Deutschland, unabhängig von der Sinnhaftigkeit, politisch verbrannt. Nicht zuletzt deshalb haben die Sozialdemokraten beispielsweise im Sommer des Jahres 2015 die härtesten Spar- und Privatisierungsforderungen gegenüber Griechenland mitgetragen – erst jetzt beklagt Schulz, dass Schäuble, gemeinsam mit der SPD, dort insgesamt 13 Rentenkürzungen mit durchgesetzt hat.

Je konkreter, desto riskanter. Das deutsche Wahlpublikum ist an solche, längst überfällige Debattenbeiträge nicht gewöhnt, die Abwehrreflexe auch in bestimmten Teilen der Medien bleiben stark. Was nämlich heißt es unter dem Strich, wenn Schulz nun eine „politische Union der Vereinigten Demokratien von Europa“ als Devise ausgibt? Oder es in seinem Programm heißt „Das langfristige Ziel ist eine europäische Verfassung“? Es geht genau wie bei der geplanten Einführung einer europäischen Wirtschaftsregierung, eines Eurozonen-Budgets samt Überwachung durch eine Eurozonen-Kammer sowie einer Reform der EU-Kommission und der generellen Stärkung des Europaparlaments um eine weitere Bündelung staatlicher Hoheitskompetenzen in Brüssel, damit die Währungsunion dauerhaft bestehen kann. Im Raum steht dabei nichts Geringeres als die Frage, ob das deutsche Grundgesetz eine weitere Rechteauslagerung eigentlich noch mitmacht.

Mit den Bürgern offen reden

Die volle Bedeutungswucht seiner eigenen Vorschläge mutet auch Schulz seinen Zuhörern nicht zu. Vielmehr verpackt er sie in vermeintlich attraktive Gegenforderungen: Höhere deutsche Zahlungen an den EU-Haushalt ja, aber nur wenn Polen oder Ungarn die verabredete Zahl von Flüchtlingen aufnehmen. Europäischer Finanzminister ja, aber nur wenn er die Banken an die Kandare nimmt und Investitionen anschiebt. Bei aller Rücksichtnahme auf die in langen Jahren erlernte EU-Skepsis: Es ist ein vorsichtiges, durchaus ehrenwertes Herantasten an eine inhaltliche europapolitische Debatte.

Die Union sollte auch in die Debatte einsteigen

Europa kann nämlich nur dann wirklich gelingen, wenn die Regierenden über solch große Fragen, ihre Ideen und Pläne reden, bevor sie nach Brüssel fliegen – statt das Publikum anschließend vor fast vollendete Tatsachen zu stellen. Es ist ganz zentral für die demokratische Legitimation der Europäischen Union, dass die nationalen Vertreter – oder in diesem Fall die Kanzlerkandidaten – den Mut aufbringen, vorab zu berichten, mit welchen Zielen sie in den kommenden vier Jahren auf EU-Ebene verhandeln wollen. Was die Zustimmung zum europäischen Projekt angeht, ist nichts schlimmer, als das Gefühl, nicht gefragt worden zu sein. Wenn Regierungen in aktuellen Krisensituationen entscheiden, kann es eine Rückkoppelung mit den Bürgern naturgemäß erst nachträglich geben – große Reformvorhaben aber müssen im öffentlichen Raum diskutiert werden.

Martin Schulz riskiert viel, indem er diesbezüglich jetzt den Anfang gemacht hat. Statt diese offene Flanke zu beschießen, sollten die Union und ihre Kanzlerin in den kommenden zwei Monaten ebenfalls in diese Debatte einsteigen. Ein Wahlkampf, in dem über konkrete europapolitische Weichenstellungen gestritten wird, wäre ein Wert an sich. Es ist noch nicht zu spät für eine Auseinandersetzung, die so geführt wird, dass sich die Bundesbürger in den nächsten Jahren von Brüsseler Gipfelbeschlüssen nicht übergangen fühlen.