Sollte wirklich jedes Kind zur Schule gehen? Immer mehr Eltern fordern Alternativen zum üblichen Unterricht. Zu Besuch bei Freilerner-Familien.

Stuttgart - Alexander Harm und seine Frau Martine waren keine schlechten Schüler, beide haben ein gutes Abitur hingelegt. Die Schule, das war für sie ein Ort, an den man ganz selbstverständlich ging. Mal mehr, mal weniger gerne – aber schließlich machten das alle so. „Ich fand es schön, meine Freundinnen zu treffen, der Rest war nicht so interessant“, sagt Martine Couvreur im Rückblick. Die 40-jährige promovierte Biologin hat viel Zeit in der Schule verbracht: In ihrem Heimatland Belgien ist die Ganztagsschule seit Langem Normalität. „Ich war sehr gut in den Fächern, die mich interessiert haben. In den anderen habe ich keinen großen Ehrgeiz entwickelt“, sagt ihr Mann Alexander, der als selbstständiger Wirtschaftsingenieur in der IT-Branche arbeitet.

 

Eine unspektakuläre Schulzeit also ohne besondere Vorkommnisse. Und doch ist das Ehepaar Couvreur-Harm, das im Rems-Murr-Kreis lebt, entschlossen, seine drei Kinder nicht auf eine Schule zu schicken – es sei denn, der Nachwuchs möchte das unbedingt. Um der in Deutschland recht streng gehandhabten Schulpflicht zu entgehen, planen die Eltern sogar, ins Ausland zu ziehen. Warum?

Keine Lust auf Kindergarten

Der Auslöser sei ihre heute fünfjährige Tochter Anna gewesen, erzählen Alexander Harm und Martine Couvreur. Als Anna drei Jahre alt war, sollte sie den Waldkindergarten besuchen. Doch Anna wollte nicht allein dort bleiben. „Wir waren entspannt und haben entschieden, dass wir warten, bis sie vier ist“, erinnert sich Alexander Harm.

Ungefähr ein Jahr später machten die Eltern den zweiten Versuch. „Anna hatte zwar Spaß im Waldkindi, wollte aber nicht ohne uns dort bleiben“, erzählt ihr Vater, der sich probeweise weggeschlichen hat. Das Ergebnis, sagt er, sei sein Kind in heller Panik gewesen. „Für uns war nach einer Woche klar, dass wir Anna nicht zwingen würden. Ein brüllendes Kind abzugeben, das war für uns keine Option“, sagt Martine Couvreur. Umso mehr, als Anna zu Hause „stundenlang glücklich und zufrieden“ mit den jüngeren Geschwistern Moira und Leander spielt.

Doch nach der Kindergarten-Frage stellte sich die Schul-Frage: Was tun, wenn Anna auch dort nicht hinwill? Annas Eltern haben sich über Bildungswege außerhalb des Schulsystems schlau gemacht. „Die Filme ,Schulfrei‘ und ,Alphabet‘ haben uns die Augen geöffnet“, erzählt Martine Couvreur. Die Dokumentationen von Anne Sono und Erich Wagenhofer zeigen Familien, die sich für ein Leben ohne Schule entschieden haben. Ihre Kinder bestimmen selbst, was und wann sie lernen. „Freilernen bedeutet nicht, dass man machen darf, was man will“, betont Alexander Harm: „Aber das Kind darf seinen eigenen Interessen folgen.“ Er und seine Frau sind davon überzeugt, dass ihre drei Kinder auf diese Weise viel mehr Dinge lernen werden, die sie später brauchen, als wenn sie eine Schule besuchen würden. „Kindern etwas gegen ihre Natur aufzudrängen ist verlorene Zeit“, sagt Martine Couvreur.