Beim Festival Ruhrtriennale hat Johan Simons Kamel Daouds Roman „Der Fall Meursault“ in einer Schauspielfassung zur Uraufführung gebracht.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Marl - Eine Frau im Blaumann, sie geht ein paar Schritte in Richtung Publikum. Sie verschüttet Wasser aus einer Flasche auf den kohlestaubigen Boden, zeichnet einen Kreis, dann noch einen, ein paar Striche kommen dazu. Die Umrisse eines Menschenkörpers. Gesichtslos. Namenlos. Die nächsten zwei Stunden kreisen die Frau im Blaumann, Elsie de Brauw sowie Sandra Hüller, Pierre Bokma, Benny Claessens und Risto Kübar, die Sängerin Kathrin Baerts und ein Orchester um diese Figur im Staub, die nun, über siebzig Jahre nach ihrer Erfindung, einen Namen bekommen hat.

 

Getötet wurde die Person von einem berühmtesten Mörder der Literaturgeschichte, von dem Franzosen Meursault aus dem Roman „Der Fremde“ von Albert Camus. Der Philosoph, Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger schrieb ihn 1942. Das Opfer von Meursault ist ein Araber, am Strand von Algier erschossen mit fünf Kugeln, nur die Sonne war Zeuge. 2014 erschien der „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ – eine literarische Sensation. Sie stammt von dem algerischen, in Frankreich lebenden Journalisten und Autor Kamel Daoud, der wegen seiner islamkritischen Äußerungen mit einer Fatwa belegt wurde.

Gefühle von Fremdheit evoziert auch die Musik Von Kagel und Ligeti

Daoud widmet sich der Familie des Ermordeten, gibt dem getöteten Mann einen Namen, Moussa. Er rollt bei der Gelegenheit die Kolonialgeschichte auf, sein Roman ist auch eine wütende Abrechnung mit den Weltreligionen, mit der Unterdrückung der Frau, mit Dogmatismus und Fanatismus.

Die Fremden sind in Daouds Roman die Franzosen, die Algerien besetzt hatten. Diesen Aspekt greift Johan Simons auf. Seine Inszenierung „Die Fremden“ kreist um Perspektivwechsel, um die Erfahrung von Fremdheit. Langsam schälen sich die Schauspieler aus ihren Blaumännern – Moussa hatte am Tag seiner Ermordung solch eine Arbeitsuniform getragen – und werden zu anderen Figuren, spielen allesamt den Erzähler Haroun, aber auch Personal aus beiden Romanen, die Mutter, Harouns Freundin Meriem, Moussa oder Meursault.

Gefühle von Fremdheit werden musikalisch durch Stücke von Mauricio Kagel und György Ligeti verstärkt. Die hervorragenden Musiker des Orchesters Asko/Schönberg sitzen inmitten der kargen Szene, die nur aus Asche, Staub und Stein besteht. Hinter ihnen eine riesige Apparatur mit Walzen, ein Kohlen-Vergleichmäßiger, der verschiebbar ist und den 250 Meter langen Raum mal weitet, mal klaustrophobisch verengt.

Die Flüchtlinge kommen aus Marl, Münster und München

Die Perspektivverschiebung zeigt sich bereits in der Wahl des Spielortes. Eine Kohlenmischhalle in der Zeche Auguste Victoria in Marl, die Ende 2105 geschlossen wurde und die nun zu einem Kunstort wird, den wiederum Leute aufsuchen, von denen wohl die wenigsten dort gearbeitet hatten, zumindest nicht an dem von vielen Prominenten, darunter Bundespräsident Joachim Gauck, besuchten Uraufführungsabend. Simons zeigt Bilder und Videos aus der Zeit des algerischen Befreiungskrieges, brennende Autos, Verhaftungen, Hinrichtungen auf offener Straße. Er zeigt aber auch Videos aus der bespielten Halle, um zu zeigen: stellt euch vor, ihr wäret selbst Fremde in einem Land. Die Spielhalle wird auf der Leinwand zum riesigen Bettenlager, die Flüchtlinge sehen nicht aus, als kämen sie aus Algerien, Syrien oder Afghanistan, sondern aus Marl, Münster oder München. Was man also weiß, wenn man nach den zwei Stunden die Zeche verlässt? Da ist ganz schön was schiefgelaufen, mal sehen, wie wir das schaffen.

Abgesehen von dieser plakativen Bebilderung gelingen dem Regisseur und Leiter der Ruhrtriennale am Freitag starke Momente. Etwa, wenn sich in der Mordszene der Kohlenboden durch geschickten Einsatz von Ton und Licht in eine Meereslandschaft verwandelt. Oder wenn Simons, mit Daoud und Camus übereinstimmend, religionskritische Passagen inszeniert. Sandra Hüller und Pierre Bokma sagen es klar und ruhig – „mir graut vor allen Weltreligionen, weil sie das Gewicht der Welt verfälschen“. Zu Sätzen wie „bleib der Erde treu“ spielt Simons Bilder aus den fünfziger Jahren ein, Frauen, am Strand liegend oder fröhlich im Sand herumspringend.

Simons zeigt, wie Menschen durch Leben taumeln

In der Textfassung von Vasco Bosnisch und Tobias Staab darf Benny Claessens die Wut des Erzählers über den berühmten französischen Schriftsteller herausbrüllen, der 25 Mal „der Araber“ schrieb. Er darf aber eben auch die verletzte Eitelkeit herausstellen, geifern, dass sein Bruder – hätte er einen Namen und eine Identität verliehen bekommen – womöglich so berühmt geworden wäre wie Meursault. Und dass sie eine „Märtyrerwitwenrente“ bekommen hätte, wie in beleidigtem Ton Elsie de Brauw hinzufügt, die Moussas Mutter spielt und „Gefallen am Martyrium“ findet. Wie Meursault hat auch Haroun eine Freundin, Sandra Hüller sagt als Daouds Meriem Sätze, die eigentlich von Camus’ Maria stammen. Mit heller Stimme triumphiert sie „ich bin brauner als du“ und hüpft um den Freund herum, Meursault/Haroun (Benny Claessens). Zärtlich umwinden sie sich, seltene Momente der Nähe entstehen.

Der suadahafte Roman ist mit seiner permanenten Leseranrede an Dramatik ansonsten eher arm. Auch gibt es keine Entwicklung, denn wie sollte man nicht auf der Seite des so lange namenlosen Opfers sein? Es geht Johan Simons aber weniger um „die Gegendarstellung“, eine Abrechnung oder Verurteilung, als darum, zu zeigen, wie die Menschen durchs Leben taumeln und wanken. Zur dissonanten Musik rennen, tanzen die Schauspieler, wirbeln Staub auf, und können doch keine Orientierung finden in diesem riesigen Raum. Sie werfen fünfzig Meter lange Schatten, man sieht überhaupt nur noch Schatten, keine Figuren – so wie man in dieser literarisch-musikalischen Untersuchung den Schatten von Figuren sowie lang zurückliegende Ereignisse umkreist, zur Sprache bringt. Die Überwölbung der Halle hat etwas von einer Kirche. Doch ist dort kein Heiligenbild. Dort ist: Nichts. Bei allem Nihilismus, bei aller Düsternis ist aber ein lebensbejahender, ein weiß-blauer Tupfen – Sandra Hüller weltverloren tanzend – das letzte grandiose bewegte Bild des heftig gefeierten Abends.

Weitere Aufführungen: 8., 9. 10. September