Die Fußballlöwen aus Stuttgart Mit fünf laufen gelernt – für Anton ist Kicken die beste Therapie

, aktualisiert am 03.07.2025 - 16:04 Uhr
Stefan Leihenseder beim Training mit den Fußballlöwen. Anton (links), Lukas und Emilia sind mit Spaß dabei. Foto: Ferdinando Iannone

Für Kinder mit motorischen Beeinträchtigungen gibt es beim TB Untertürkheim eine eigene Mannschaft. Trainer Stefan Leihenseder wollte seinem Sohn Anton einen Traum erfüllen.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Die Sonne brennt aufs Kleinfeld. Doch Jaro gibt alles. Er läuft über den Kunstrasen. Da kommt der Ball auch schon. Lukas hat den Pass gespielt – Jaro holt aus. Trifft er? Er trifft! Der Ball landet im Tor. Das ist unbewacht, aber egal. Der Achtjährige reißt strahlend die Arme hoch. „Super“, ruft der Trainer, Stefan Leihenseder. Da kommt schon das nächste Kind aufs Tor zugelaufen, mit rotem Kopf und unverwechselbaren Schritten. Wieder ein Tor! Auch Anton jubelt.

 

Seit Januar trainieren sie regelmäßig auf dem Kleinfeld beim TB Untertürkheim: Jaro (8), Lukas (10), Emilia (fast 10) und Anton (9). Die vier sind die „Fußballlöwen“. Diesen inoffiziellen Namen haben sich die Kinder und ihr Trainer selbst gegeben für ihre bisher in Stuttgart einzigartige Fußballgruppe. Denn die richtet sich ausschließlich an fußballbegeisterte Kinder mit einer motorischen Beeinträchtigung.

Mit fünfeinhalb laufen gelernt, jetzt spielt er Fußball

Stefan Leihenseder hat die Gruppe gemeinsam mit seiner Frau Mirja ins Leben gerufen. Sie wollten ihrem Sohn Anton unbedingt den Traum erfüllen, in einem Verein Fußball zu spielen. In einer klassischen Mannschaft jedoch hätte er keine Chance, sind sie sicher. Anton hat erst mit fünfeinhalb Jahren laufen gelernt. Er kann mit dem Tempo gesunder Kinder nicht mithalten.

Der Neunjährige wurde als Extremfrühchen geboren – nach nur 23 Wochen im Mutterleib. Das erste halbe Lebensjahr verbrachte er im Krankenhaus, wurde schließlich mit Sauerstoffgerät entlassen. Früh zeigten sich bei ihm motorische Probleme. Anton war noch keine drei Jahre alt, als ein Arzt den Eltern riet, ihren Sohn in den Rollstuhl zu setzen. „Dann haben Sie ihre Ruhe“, erinnert sich Mutter Mirja. Für die Eltern kam das nicht infrage. Den Rollstuhl parkten sie im Keller. Sie sahen die Chance für ihren Sohn, auf die Beine zu kommen.

Und arbeiteten viel mit ihm. Vor allem viel mit dem Ball. Denn Bälle liebt der Junge, darüber ließ er sich am besten motivieren. So hätten sie ihn letztlich zum Laufen gebracht, erzählen sie. Weil es immer um mehr ging als ums Gehen. Anton wollte kicken können.

„Gebt richtig ein bisschen Gummi!“, ruft der Trainer

Zurück auf dem Platz. Am Anfang des Trainings, um kurz nach 15 Uhr, stehen Hütchen und Stangen auf dem Feld, eine Fitness-Leiter und Ringe liegen auf dem Kunstrasen. Stefan Leihenseder fängt immer mit Geschicklichkeitsübungen an. Das Rundenlaufen, das in vielen Vereinen zum Aufwärmen üblich ist, fällt weg. Das würde die Kinder nur frustrieren.

Drei Mal sollen sie den Parcours bewältigen, der ihnen einiges an Koordination abverlangt – vor allem die Leiter. Emilia tut sich mit der Station am leichtesten. Sie schafft es, immer in den Zwischenräumen und nicht auf den Sprossen zu landen. „Sehr gut“ und „Geht doch“, ruft Stefan Leihenseder über den Platz. „Gebt richtig Gummi!“, spornt er die vier an, als sie um die Hütchen kurven.

Die Fußballlöwen wollen wachsen. Foto: LG/Ferdinando Iannone

Eigentlich wollten die Leihenseders Anton in einem bestehenden Fußballverein anmelden. Doch es habe in Stuttgart kein Angebot für Kinder in seinem Alter gegeben, die „nur“ eine körperliche Einschränkung haben. So kam es, dass sie selbst eines starteten. Im Herbst des vergangenen Jahres fand das erste Probetraining im Garten statt, dann konnten sie beim TB Untertürkheim unterschlüpfen.

Nach dem Aufwärmen geht’s mit Techniktraining weiter: Die Fußballlöwen stehen in einer Reihe einige Meter entfernt von einem kleinen Tor. Stefan Leihenseder spielt den Kindern nacheinander den Ball zu – sie schießen ihn rein, tatsächlich alle vier. „Super, ihr habt alle getroffen“, freut er sich. Dann sollen sie den Ball erst annehmen vor dem Torschuss. Anton probiert es mit dem Knie. Das klappt nicht. Also noch ein Versuch: Annahme mit der Brust. Das klappt. „Bombe!“, ruft sein Vater. Emilia donnert den Ball einmal regelrecht ins Netz. Ein andermal kullert er neben das Tor.

Es kann auch mal passieren, dass ein Kind neben den Ball tritt oder das Gleichgewicht verliert und auf dem Hosenboden landet. Doch das ist nicht schlimm. Dann steht es eben auf und probiert es noch mal. „Es sind alle nicht so stabil auf den Beinen“, so hatte es Mirja Leihenseder im Vorgespräch ausgedrückt. Oder wie Emilia sagt: „Hier sind wir alle gleich, niemand ist besser im Rennen, es macht einfach Spaß.“

„Super, Jaro“, „Super, Anton“, „Super, Emi“, „Klasse, Lukas“, schallt es über das Feld. Die anderen Eltern sind heilfroh über die Initiative des Ehepaares. Auch sie haben zuvor nach einem ähnlichen Angebot für ihre Kinder gesucht. „Es gab nichts“, sagt Lena Kannicht, die Mutter von Emilia und Jaro. Ganz fassen kann sie das immer noch nicht, schließlich gebe es so viele betroffene Kinder in einer Großstadt wie Stuttgart. Sie findet es „schade, dass sich die Familien so viel selbst erkämpfen“ müssten.

Bewegung und Sport sind wichtig für ihre Gesundheit

Wie die meisten Jungen in seinem Alter habe sich auch Jaro irgendwann gewünscht, Fußball zu spielen – „mit Kindern, die sind wie er“. Zuvor war er mit seiner Schwester ein Jahr lang beim Judo, doch das machte den beiden irgendwann nicht mehr so viel Spaß. Sie sei zwar recht stark, sagt Emilia, aber sie könne nicht so gut mit den Beinen arbeiten wie die anderen. Umso glücklicher war Mutter Lena Kannicht, als sie von der neuen Fußballgruppe erfuhr.

Emilia und Jaro haben beide eine angeborene Erkrankung des peripheren Nervensystems, die zu Muskelschwäche führt. Diese schreitet fort, man kann aber mit Bewegung und Sport viel erreichen, entsprechend wichtig ist Sport für ihre Gesundheit. Beide hätten zum Glück Freude an der Bewegung. Doch die Mutter weiß, dass sich das durch Frusterlebnisse schnell ändern kann. Nicht sie seien falsch, vermittelt sie deshalb ihren Kindern – der Standardschulsport sei einfach nicht der richtige für sie. Wichtig sei, den Fokus auf das zu legen, „was geht, nicht auf das, was nicht geht“, findet die 40-Jährige. Ein Ansatz, der zu den Fußballlöwen passt.

Von der Physiotherapie direkt zum Fußballtraining

Stefan Leihenseder versammelt sein Team als nächstes an der linken Eckfahne. Sie sollen sich für eines ihrer Lieblingsspiele aufstellen: „Schweinchen in der Mitte“. Das Kind in der Mitte muss einem anderen oder dem Trainer den Ball abjagen. Wer das schafft, ist erlöst. Andersrum: Spielt jemand einen Fehlpass, ist er das nächste „Schweinchen“. Es ist viel Bewegung drin. Alle sind mal in der Mitte, keiner wird zu lange ausgespielt. „Schweinchen in der Mitte“ macht den vieren sichtlich Spaß, aber es ist auch eine schweißtreibende Angelegenheit.

„Trinkpause“, ruft Stefan Leihenseder. Anton steckt seinen Kopf in einen der bereit stehenden Wassereimer. Die anderen greifen sich ihre Trinkflaschen. Ganz schön heiß ist es. Bei der nächsten Pause setzt sich Lukas in den Schatten. Der Zehnjährige war schon vor dem Training bei der Physiotherapie, aber Fußball sei viel besser. „Ich könnte noch bis Mitternacht spielen“, meint er. Und dann sagt er etwas, das er unbedingt loswerden will: „Ich freue mich, dass ich jetzt hier spielen kann mit welchen, die auch eine körperliche Beeinträchtigung haben.“

Seit er sechs ist, wollte Lukas schon zum Fußball. Zweimal war er beim Training eines klassischen Kindersportvereins. Doch das lief nicht gut. Da sei ein nerviges Kind gewesen, erzählt er. In der Schule mache Fußball auch Spaß. Nur: „Ich krieg halt nie den Ball.“ Das ist in seinem Team anders. Das Training findet Lukas „richtig geil“. Denn: „Ich bin geboren für Fußball.“

Lukas überlegt, wo er sich selbst aufstellen würde. Eigentlich könne er hier bei den Fußballlöwen jede Position spielen. Er entscheidet sich fürs Mittelfeld, zögert, denkt an den Pass auf Jaro von vorhin. „Doch lieber Außensturm.“

Der Trainer fordert, ohne zu überfordern

Lukas war drei Jahre alt, als bei ihm eine Autoimmunenzephalitis ausbrach und das Immunsystem sein Gehirn angriff. Ein Begleitsymptom der Erkrankung sind epileptische Anfälle. Zuvor sei ihr ältester Sohn völlig normal entwickelt gewesen, erzählt Constanze Bräuning. An die 20 Mal habe Lukas das Laufen seither immer wieder neu lernen müssen – ein enormer Kraftakt. „Aber er wollte immer Fußball spielen“, erzählt die 38-jährige Stuttgarterin, die noch zwei weitere Kinder hat. Der Mittlere ist schon länger im Verein. Nun hat auch Lukas endlich seine eigene Mannschaft. Und geht in ein richtiges Training.

Das bedeutet den Kindern viel. Es wird nicht nur ein bisschen mit dem Ball hin- und hergespielt, sondern Stefan Leihenseder arbeitet mit den Kindern an ihrer Technik und Koordination. Er fordert sie, ohne sie zu überfordern. Und am Ende des Trainings kommt immer das legendäre „Endspiel“.

„Hilfe, so viel Angreifer“, ruft der Trainer und trippelt mit dem Ball über den Platz. Er ist umringt von den vier Kindern, die ihm den Ball abluchsen wollen. Jaro und Anton gelingt es tatsächlich mit vereinten Kräften. Dann steht Anton vor dem Ball und zögert. „Abspielen – und freilaufen, freilaufen“, lauten die Anweisungen seines Vaters. Die anderen schwärmen aus. Der Ball kommt von Anton über Jaro zu Lukas. Der läuft damit Richtung Tor. „Ja! Weiter, Lukas!“

Fußballlöwen und weitere Sportangebote

Fußballlöwen
Die „Fußballlöwen“ des TB Untertürkheim treffen sich derzeit montags um 15 Uhr. Sie hoffen, dass sich noch mehr Kinder zwischen sieben und elf Jahren mit motorischer Beeinträchtigung melden, die mitspielen wollen. Wer Interesse hat, kann sich unter fussballspiel@freenet.de oder Telefon 0177/1 64 11 30 bei den Leihenseders melden. Eindrücke vom Training im Video gibt es auf unserem Instagram-Kanal StZ-Familie unter https://stzlinx.de/fussballloewen.

Netzwerk
Das Stuttgarter Netzwerk Inklusion und Sport hat das Ziel, mehr inklusive Sportangebote in Stuttgart zu schaffen. Stuttgarter Sportvereine und -verbände, Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Sportkreis Stuttgart und das Amt für Sport und Bewegung haben sich im Juni 2023 zusammengeschlossen. Auf einer Internetseite hat der Sportkreis Angebote angeführt von Vereinen, die offen für Inklusion sind – von Aikido über Badminton und Klettern bis Yoga. Bei Interesse bitte an Ulrike Schmauder vom Sportkreis Stuttgart wenden: Telefon 0711/28 07 76 46, E-Mail ulrike.schmauder@sportkreis-stuttgart.de. Die Angebote sind hier zu finden: https://www.stuttgart-bewegt-sich.de/entdecke/inklusion-und-sport.

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